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Archiv-Artikel

„Optimismus ist für Europäer Pflicht“

Nach den Volksentscheiden zur EU-Verfassung fordert der Historiker Heinrich August Winkler mehr Mitsprache der nationalen Parlamente bei künftigen Erweiterungen. Notfalls wird die EU ohne Großbritannien weiter bestehen

taz: Herr Winkler, selbst im europäischen Musterland Luxemburg stand die Zustimmung zur EU-Verfassung am vorigen Sonntag auf der Kippe. Haben sich die Europäer von Europa abgewandt?

Heinrich August Winkler: Das Ja der Luxemburger hebt das Nein der Franzosen und Niederländer leider nicht auf. Die Volksabstimmungen der vergangenen Wochen haben gezeigt, wie weit die Frustration schon gediehen ist. Das Gefühl, dass es sich in Brüssel nur noch um entfremdete Politik handelt. Oder, um mit Karl Marx zu sprechen, um die Verselbstständigung der Exekutivgewalt.

Das müssen Sie erklären.

Der Eindruck, nur mit vollendeten Tatsachen konfrontiert zu werden, ist die Hauptursache für die antieuropäische Stimmung. Wir brauchen einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs über die Grundsatzentscheidungen der Union. Und zwar bevor sie fallen, nicht im Nachhinein wie bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Im Stil des aufgeklärten Absolutismus lässt sich Europa nicht länger regieren.

Haben die Volksabstimmungen über die EU-Verfassung diesen Diskurs hergestellt?

Die zurückliegenden Plebiszite in Frankreich und den Niederlanden sprechen nicht gerade für eine Überlegenheit der direkten Demokratie. Vor allem in Frankreich haben sich Kräfte zusammengetan, deren Ziele sich gegenseitig ausschließen – zum Beispiel die Anhänger von Le Pen auf der einen und die Kommunisten auf der anderen Seite. Zu einer konstruktiven Zusammenarbeit wären diese Gruppierungen gar nicht in der Lage.

Was schlagen Sie als Alternative zum Volksentscheid vor?

Meine Folgerung aus der französischen und niederländischen Erfahrung ist: Wir müssen mehr repräsentative Demokratie wagen. Wir brauchen die Zustimmung der nationalen Parlamente, wenn es um wichtige Weichenstellungen geht – etwa um die Verleihung des Kandidatenstatus an ein Bewerberland oder die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.

Warum wollen Sie die nationalen Parlamente stärken und nicht das Europaparlament?

Das Europäische Parlament hat nach dem Verfassungsentwurf nur begrenzte Kontrollrechte. Solange die wichtigsten Entscheidungen im Europäischen Rat fallen, müssen die nationalen Regierungen ein Mandat ihrer Parlamente mitbringen. Der Soziologe Max Weber hat den Begriff des Legitimitätsglaubens geprägt. Wenn ein Projekt den Legitimitätsglauben bei den Bürgerinnen und Bürgern verliert, dann ist es auf Sand gebaut.

Manche der Missstände, die Sie kritisieren, sollten durch die neue Verfassung behoben werden. Wollen Sie das Vertragswerk jetzt zu Grabe tragen?

Im Gegenteil. Meine Forderung steht in voller Übereinstimmung mit dem Verfassungsentwurf. Er enthält das Minimum an institutionellen Reformen, die Europa braucht. Besser wäre gewesen, auf den Begriff „Verfassung“ zu verzichten. Die Bezeichnung „Grundlagenvertrag“ hätte weniger Erwartungen geweckt, die durch ein solches Vertragswerk gar nicht erfüllt werden können.

Was muss jetzt passieren?

Es geht jetzt um den Versuch, die Quintessenz der gescheiterten Verfassung in verständlicher Form in einem solchen Grundlagenvertrag zusammenzufassen. Es müsste dann klar sein, dass die Annahme oder Ablehnung eines solchen Vertrages identisch ist mit der Annahme oder Ablehnung einer weiteren Mitgliedschaft in der EU.

Was geschieht, wenn dieser Vertrag in einem so wichtigen Land wie Frankreich neuerlich abgelehnt würde?

Mit einer neuerlichen Ablehnung in Frankreich rechne ich nicht. Für offen halte ich die Entscheidung in Großbritannien.

Die Konsequenz wäre dann eine Europäische Union ohne die Briten?

Diese Entscheidung muss Großbritannien eines Tages treffen. Formell dabei zu sein, in Wirklichkeit aber die Europäische Union nur als verbesserte EWG zu sehen – diese Politik lässt sich nicht dauerhaft durchhalten. Es reicht auch nicht, nur verbal Ja zu sagen zu Europa als politischem Projekt, aber dann nicht zu konkretisieren, was daraus folgt.

Und wenn andere Länder gegen einen solchen Grundlagenvertrag stimmen?

Dann muss man das respektieren. Dann müssen die anderen aber die Möglichkeit haben, enger zusammenzuarbeiten. Es würde sich so etwas wie ein engerer und ein weiterer Bund innerhalb der bisherigen Gemeinschaft herausbilden. Fatal wäre es allerdings, wenn die Westeuropäer in einem engeren Bund unter sich wären. Das wäre eine neuerliche Ost-West-Spaltung Europas.

Diese Spaltung gibt es schon jetzt. In Frankreich hat sich die Kritik vor allem an der Angst vor dem „polnischen Klempner“ entzündet, der heimischen Handwerkern Konkurrenz macht. War die Osterweiterung ein Fehler?

Nein. Die so genannte Osterweiterung war in Wahrheit eine Wiedervereinigung des Westens. Die acht Neumitglieder, die bis 1989/90 kommunistisch regiert wurden, gehören alle zum historischen Okzident. Allerdings haben alle Regierungen zu sehr darauf vertraut, dass der Sinn der Erweiterung von den Wahlbürgern auch ohne nähere Erläuterungen eingesehen wird. Da ist vieles versäumt worden.

Was hätte man tun müssen?

Abstrakt formuliert: humanitäre, ökologische, soziale Mindeststandards. Maßnahmen gegen Sozialdumping, die aber die Grenze zum Protektionismus nicht überschreiten. Dennoch: Die französischen EU-Gegner hätten keinen Erfolg gehabt, wenn es rückblickend nur um die Erweiterung von 2004 gegangen wäre.

Sondern?

Es ging dabei sicher auch um künftige Erweiterungen über den Kreis der 25 hinaus.

Womit wir bei Ihrem liebsten Thema wären, dem Streit um den türkischen EU-Beitritt?

Im Falle der Türkei wird es darum gehen, die Beitrittsverhandlungen nicht nur technokratisch zu führen, sondern die Frage zu verhandeln, ob die politischen Beitrittskriterien wirklich erfüllt sind. Die Debatte über den Völkermord an den Armeniern wirft diese Frage noch einmal sehr ernsthaft auf. Der türkische Außenminister hat gerade erst in einem Interview gesagt, es habe nie einen Genozid an den Armeniern gegeben. Eine solche Haltung gegenüber einem düsteren Kapitel der eigenen Nationalgeschichte entspricht nicht westlichen Vorstellungen von politischer Kultur.

Wenn Sie die europäische Krise der vergangen Wochen im Ganzen betrachten: Sehen Sie eher den Keim des Untergangs oder die Chance zu einem wirklichen Neubeginn?

Es gibt Situationen, in denen – frei nach Kant – Optimismus Pflicht ist. Wir müssen eine Wendung zum Besseren für möglich halten. Wenn es anders wäre, müssten wir das Projekt Europa verloren geben. Dazu bin ich nicht bereit.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN