Die Verhältnisse der kleinen Leute

Werke der vergessenen französischen Malerin Mathilde Tardif (1872–1929) im Verborgenen Museum in Charlottenburg

Mathilde Tardif, ohne Titel (Der Kunstkritiker), Mischtechnik auf Papier Foto: Verborgenes Museum

Von Katrin Bettina Müller

Die Suche ist noch lange nicht vorbei. Die Suche nach Frauen, deren Anteil an der Geschichte vergessen und verdrängt wurde. Das zeigte während des Theatertreffens die Performance „Name Her“ von Marie Schleef, die in alphabetischer Reihenfolge Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen vorstellte, die erst durch Recherchen der letzten Jahre wiederentdeckt wurden. Und das zeigt das Verborgene Museum in Charlottenburg, das sich seit über 30 Jahren wenig bekannten Fotografinnen, Künstlerinnen und Architektinnen widmet.

Als Mathilde Tardif (1872– 1929), die in Paris an der Académie Julien studiert hatte, gegen 1900 nach Berlin kam, gelang ihr bald die Teilnahme an den Ausstellungen der Berliner Session, die dem Aufbruch in die Moderne viele Türen öffnete. Einige der damals ausgestellten Motive sind im Verborgenen Museum erstmals wieder in Berlin zu sehen, darunter „Die tote Mutter“ und „Obdachlose“.

„Die tote Mutter“ von 1902 ist in einem bäuerlichen Ambiente aufgebahrt, unter Heiligenbildern und einem Kreuz. Vor ihr stehen zwei verlorene Kinder, der Junge hat die Fäuste in den Taschen geballt.

Doch typischer für die kleinformatigen Bilder von Mathilde Tardif ist ein Zusammenziehen der Figuren auf engem Raum. In Rückenansicht sieht man Buben und Mädchen, die neugierig über die Schulter nach hinten schauen und weniger auf den korpulenten Mann vor ihnen, der sie im Religionsunterricht unterweist. Die gebauschten Röcke und ausladenden Hüte dreier junger Frauen überschneiden sich, die ein alter Mann vorgebeugt betrachtet. Hintereinander aufgereiht sind in der Seitenansicht in „Les Plaisier du Dimanche“ eine Frau und ein Mann, um deren Beine fünf kleine Kinder auf dem Spaziergang wuseln.

Mathilde Tardif lenkt in ihren Bildern der Jahre um 1900 den Blick einerseits auf Szenen, wie man sie in Berlin auch von Käthe Kollwitz, Heinreich Zille und George Grosz kennt, sie widmet sich liebevoll dem kleinbürgerlichen Milieu, dem frivolen Spiel, den sozialen Rand­existenzen. Ihre Farbpalette in einer Mischtechnik aus Aquarell, Tempera und Bleistift ist dabei dunkel und samtig. Ihr Strich, die langgezogenen Figuren, der Schwung der Garderoben, bringt andererseits auch etwas vom Schönlinigen und Ornamentalen des Jugendstils hinein.

Ab 1907 war sie mit dem Porträtmaler Leo Freiherr von König verheiratet, der auch von ihr impressionistische Porträts gemalt hat. Beide waren mit dem Kunstschriftsteller Julius Meier-Gräfe befreundet, der zwar für die Durchsetzung des Impressionismus in Deutschland eine wichtige Rolle spielte, Künstlerinnen aber nie erwähnte. Auch nicht Mathilde Tardif, trotz gemeinsamer Reisen.

Nach 1920 lebte sie wieder in Frankreich, in Cassis-sur-Mer. In dieser Hafenstadt entstanden lichtere Bilder als zuvor, erfüllt von der Sonne am Meer, die in der Komposition und der Perspektive, dem Blick auf Plätze und Buchten, aber auch etwas Naives haben. Das Bild „Trauerzug am Hafen“ misst 23,8 mal 33 Zentimeter, aber mehr als 50 Figuren sind zu sehen, im Trauerzug, am Eiswagen, Zuschauende im Café und auf der Promenade gegenüber und winzig klein auf den Segelschiffen in der Hafenbucht. Als wolle der Blick der Malerin jetzt immer das ganze Leben umfassen und nicht nur einen Ausschnitt.

„Mathilde Tardif“, Verborgenes Museum, Schlüterstr. 70, Fr. 15–19 Uhr, Sa. + So. 12–16 Uhr. Bis 22. August