dvdesk: Leben und Denken in sehr kurzen Fristen
Eigentlich waren die Brüder Josh und Bennie Safdie gerade dabei, einen anderen Film vorzubereiten. Sie recherchierten, es war das Jahr 2014, im sogenannten Diamantenviertel New Yorks, einem Teil von Manhattan, der so heißt, weil hier Edelsteinhändler konzentriert sind. Dieser andere Film, „Uncut Gems“, entstand dann fünf Jahre später mit Adam Sandler in der Hauptrolle und wurde ein Riesenerfolg, an den Kassen und bei der Kritik. „Mad Love in New York“ war der Film, der ihnen dazwischenkam, weil sie bei der Recherche auf Arielle Holmes trafen, eine Zufallsbegegnung.
Holmes lebte im Diamantenviertel, und zwar auf der Straße. Die Safdie-Brüder kamen mit ihr ins Gespräch, sie erzählte von ihrer Heroinsucht, von Ilya, dem Mann, auch er ein Obdachloser, den sie liebte. Josh Safdie kam auf die Idee, sie solle die Geschichte ihres Lebens aufschreiben, er würde den Text seitenweise bezahlen, was sie dann tat, an Rechnern in Apple-Shops. Aus dem so tatsächlich entstandenen Text machten er und der regelmäßige Safdie-Kollaborateur Ronald Bronstein ein kaum fiktionalisierendes Drehbuch und die Safdie-Brüder dann diesen Film.
In der Hauptrolle spielt Arielle Holmes eine obdachlose junge Frau in New York, sehr nah an sich selbst. Im Rollennamen Harley sind die Buchstaben etwas durcheinandergewürfelt, ihr real existierender Partner Ilya heißt zwar wie im richtigen Leben, wird aber als einzige der sonstigen Figuren von einem professionellen Schauspieler dargestellt, Caleb Landry Jones. (Der reale Ilya starb 2015, kurz bevor der Film in die Kinos kam, an einer Überdosis. Ihm ist „Mad Love in New York“, der im Original im übrigen „Heaven Knows What“ hieß, gewidmet.)
Die Filme der Safdies, dafür sind sie berühmt oder berüchtigt, werfen die Zuschauerin in ihre Welten hinein. So auch hier. Mit der ersten Einstellung sind wir auf der Straße, nahe dran, viel Handkamera, eine atemlose Desorientierung, gleich ein Hin und Her zwischen Arielle und Ilya, eine Liebes- und Hassbeziehung, sie schneidet sich, aus Wut und Trotz, die Pulsadern auf.
Sie kommt ins Krankenhaus, vierzehn Stiche, kommt wieder raus, zurück in das Leben, das von der Droge bestimmt ist: eine Spritze zum Durchhalten, dann die Suche nach Wake-ups, um nach den Downs wieder hochzukommen. Schnorren, Betteln, Klauen, Arielle und Ilya haben einen Deal mit einem Kiosk-Besitzer, der ihnen Geld für in Drugstores gestohlene Energy-Drinks gibt.
Der Film immer dabei, die Kamera den Figuren immer auf der Pelle, alle immer unter Druck. Die Dialoge oft ziellos, die Handlung verpeilt, ein Miteinander zwischen Suchen nach Nähe, Solidarität, Nicht-mehr-Aushalten, Aggression. Da wird nichts durch einen Plot rundgemacht, ein Fluchtversuch Richtung Florida geht ins Leere. Nur die Musik, elektronisches Georgel von Isao Tomita (Debussy-Variationen) oder Techno, setzt hier und da heftige Kontrapunkte, entrückt das Geschehen, setzt den hyperrealistischen Bildern und Szenen für Momente eine andere Sphäre entgegen.
Und geht umso entschlossener wieder zurück in das Leben als Hetze, als Druck, ein Leben und Denken in sehr kurzen Fristen. Kaum ist mal Geld da, ist es wieder weg. Kaum gibt es Unterschlupf, geht es auf die Straße zurück. Bei dem Sujet droht Exploitation, es ist nicht die Authentizität, sondern die Energie (positiv, negativ, heftig, fragil) von Arielle Holmes, die dem gegensteuert. Botschaft gibt es sowieso keine, eine Auflösung auch nicht. Und ein Happy End nur im richtigen Leben: Die Safdies haben Holmes auf ihre Bitte hin einen Entzug bezahlt, sie hat seitdem in zwei weiteren Filmen gespielt. Ekkehard Knörer
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