Geschenk des Bären

Macht einen baff: „An das Wilde glauben“ von Nastassja Martin

Nastassja Martin: „An das Wilde glauben“. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 139 S., 18 Euro

Von Jens Uthoff

Was für eine Wahnsinnsgeschichte, was für eine Frau. Eine junge französische Anthropologin, die in den Wäldern Kamtschatkas forscht, wird von einem Bären angefallen. Der zerfetzt ihr das Gesicht, verletzt sie an Jochbein, Kiefer und Bein – doch sie überlebt, wird in russischen und französischen Krankenhäusern vernäht, erhält Transplantationen. Und muss verarbeiten, dass ihr Gesicht entstellt ist.

Es ist ihre eigene, wahre Geschichte, die die Anthropologin Nastassja Martin in „An das Wilde glauben“ aufschreibt. Der Roman ist der Bericht einer Heilung, die Verarbeitung des Geschehenen und eine Reflexion über das menschliche und tierische (Zusammen-)Leben. Es ist ein Buch, das einen oft baff macht. Zum Beispiel deshalb, weil Martin, kaum genesen, erneut nach Kamtschatka fährt, wieder in dem Dorf bei einer ewenischen (indigenen) Familie lebt, um deren Perspektive auf die Ereignisse zu hören: „Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, indem sie dich am Leben gelassen haben.“

Für sie selbst sind die Gesichtsverletzungen unfassbar tragisch – und es hilft ihr wenig, als eine Stationspsychologin ihr quasi einen Identitätsverlust attestiert („Denn das Gesicht, wissen Sie, ist die Identität“). Martin schildert emotionale Zusammenbrüche, umkreist aber auch rationale Interpretationen des Bärenangriffs. Sie begreift, dass sie von sich aus das Wilde gesucht hat, dass der Bär die Spiegelung dessen ist. Aber Martin, dem Animismus nicht abgeneigt, nähert sich dem Ereignis bei der Wiederkehr an den „Tatort“ nicht nur anthropozentrisch. Sie will verstehen, wie das Nebeneinander von Mensch und Tier in sibirischen Wäldern funktioniert („Es gibt hier ein Wollen außerhalb der Menschen, eine Intention jenseits des Menschlichen“) und was das mit dem Unfall zu tun hat. So ist „An das Wilde glauben“ auch ein philosophisches Buch, das einen neu über das Verhältnis von Mensch und Natur nachdenken lässt.