: Lebenswege
Land der Töchter, Mütter, Schwestern: In ihrem kriminalistisch grundierten Debütroman „Das Verschwinden der Erde“ entwirft die amerikanische Autorin Julia Phillips ein eindrucksvolles ostsibirisches Gesellschaftspanorama
Von Katharina Granzin
Zwei kleine Mädchen sollte man nicht den ganzen Tag lang allein durch die Stadt stromern lassen. Aber was soll eine alleinerziehende junge Mutter tun, die weder auf eine Ferienbetreuung noch auf hilfreiche Verwandte zurückgreifen kann? Zudem ist die Stadt Petropawlowsk, im Südosten der sibirischen Halbinsel Kamtschatka gelegen, eigentlich ein beschauliches Pflaster, wo nie etwas Aufregendes passiert. Umso größer ist die Aufregung, als die Schwestern Aljona und Sofija, elf und acht Jahre alt, an einem sonnigen Augusttag spurlos verschwinden.
Kamtschatka ist als literarischer Ort, zumindest von weit im Westen aus gesehen, ein noch sehr unbeschriebenes Blatt. Das mag mit den Ausschlag gegeben haben, als die junge amerikanische Autorin Julia Phillips (Jahrgang 1989) vor ein paar Jahren ihre Bewerbung um ein Fulbright-Stipendium für Creative Writing verfasste, das es ihr schließlich ermöglichte, ein Jahr lang auf Kamtschatka zu leben und zu recherchieren. Ihrem nach diesem Aufenthalt entstandenen Debütroman ist eine große Vertrautheit mit den örtlichen Gegebenheiten und Sitten eingeschrieben. Und auch in vielerlei anderer Hinsicht ist „Das Verschwinden der Erde“ sehr bemerkenswert. Zwar hat Phillips das multiperspektivische Erzählen natürlich nicht erfunden, aber sie findet dafür eine außergewöhnliche Form. Ihr Roman besteht aus vielen einzelnen Erzählungen, die im Prinzip auch jede für sich allein stehen könnten. Alle zusammengenommen aber ergeben etwas viel Größeres.
Das im Romantitel annoncierte „Verschwinden der Erde“ ist eine Metapher, eine weite inhaltliche Klammer, die einen Zustand der Haltlosigkeit andeutet, des Sich-Auflösens existenzieller Gewissheiten. Von einer solchen Phase im Leben der Protagonistinnen – ja, es sind nur Frauen! – handeln alle Episoden, angefangen von der ersten, die aus Sicht der elfjährigen Aljona miterleben lässt, wie die beiden Schwestern beim Spielen am Meer einem Mann begegnen, der ein wenig schwächlich und gehbehindert erscheint und sich von den Kindern helfen lässt, zu seinem Auto zu kommen.
Alle anderen Geschichten beziehen sich – mal direkt, mal indirekt – auf diese erste Erzählung, auf die ultimative menschliche Katastrophe als scheinbar unlösbares Rätsel, auch wenn die unmittelbar folgenden Erzählungen zunächst fort davon zu führen scheinen: In einer leidet ein ein eigenwilliger Teenager Seelenqualen. Ihre beste Freundin will sich nicht mehr mit ihr treffen, da deren Mutter den Umgang der beiden ablehnt. Traurig und wütend streift das Mädchen allein durch die Stadt – wie leicht, denkt man da, könnte sie ebenfalls zum Opfer eines Entführers werden.
In der nächsten Erzählung steht die Mutter jener einst besten Freundin im Mittelpunkt, die wir als unsympathische Person kennengelernt haben. Aber auch diese Frau hat ihr persönliches Päckchen, ihre eigene Katastrophe zu tragen. So folgt Schicksal auf Schicksal, Lebensentwurf auf Lebensentwurf: Die Studentin Ksjuscha tritt auf, ein braves Mädchen ewenischer Herkunft, die in der Volkstanzgruppe der Universität einen jungen Mann kennen und lieben lernt und ihrem besitzergreifenden russischstämmigen Freund untreu wird. Eine andere Geschichte erzählt von einer jungen Mutter, Frau eines Polizisten, die an ihrem Hausfrauendasein leidet und sich in sexuelle Fantasien flüchtet.
Julia Phillips: „Das Verschwinden der Erde“. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. dtv, München 2021. 376 S., 22 Euro
In manchen Geschichten wird man Anknüpfungspunkte an das große Rätsel entdecken, in anderen nicht. Manche Personen tauchen mehrfach auf, wie die Geologin Katja, die aber eine Randfigur ist im Vergleich zu ihrer Kollegin Oksana, die als einzige Zeugin den Entführer der Mädchen gesehen hat. Doch da Oksana, die in einer späteren Erzählung verzweifelt nach ihrem Hund sucht, sich an kaum etwas erinnert, tut die Polizei ihre Aussage als unglaubwürdig ab. Die Beamten suchen gar nicht erst nach einem Entführer, sondern nehmen an, die Kinder seien ertrunken.
Über dieses Mosaik aus Szenen und Dramoletten setzt sich ein größeres Bild zusammen: Ein Gesellschafts- und gleichzeitig auch Landschaftspanorama wird sichtbar. Allgemeine Zusammenhänge treten zutage, obgleich es sehr private innere Räume sind, in die die Erzählungen Einblick gewähren. Aber gerade dabei ist es möglich, Einstellungen offenzulegen, die Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Kontext ermöglichen.
Das betrifft auch das Verhältnis zwischen den russischstämmigen BewohnerInnen Kamtschatkas und den UreinwohnerInnen. Die gezielte Pflege etwa der ewenischen Kultur, so wird deutlich, ist seit dem Ende der Sowjetunion wieder verstärkt möglich, und auch der Zugang der UreinwohnerInnen zu höherer Bildung hat sich sehr verbessert. Doch werden bei den Romanfiguren immer wieder rassistische Einstellungen deutlich, nicht zuletzt bei der Polizei.
Nur wenige Jahre vor der Entführung der kleinen russischen Mädchen, stellt sich heraus, verschwand nämlich bereits eine junge Ewenin aus einem abgelegeneren Ort im Norden. Doch da das Mädchen einen „schlechten Ruf“ hatte, glauben außer ihrer Mutter alle, dass sie davongelaufen sei.
Das eigentliche, tief in die Textur der Erzählungen eingewobene Romanthema ist die Situation von Frauen in einer Gesellschaft, die immer noch stark von patriarchalen Einstellungen geprägt ist. So verschieden die Lebenswege der Frauen, die jeweils für eine kurze Episode zur Hauptfigur werden, auch sein mögen, so gibt es doch in praktisch jeder Erzählung Momente, in denen die gesellschaftlichen Beschränkungen sichtbar werden, mit denen jede einzelne von ihnen zu kämpfen hat.
Mit dem episodenhaften Aufbau des Romans setzt Julia Phillips, vielleicht gezielt, vielleicht ganz unabhängig, eine basisdemokratisch orientierte, feministische Erzähltheorie in die Praxis um, die von der 2018 verstorbenen Autorin Ursula K. Le Guin entwickelt wurde. Le Guin lehnte die zentralistische, auf einen einzigen Helden fokussierte Erzählweise von Romanen in ihrer späten Schaffensperiode ab und setzte an ihre Stelle eine, wie sie es nannte, „Tragetaschentheorie des Erzählens“. In Analogie zu einem Beutel, der viele gleiche Körner enthalte, sollte auch ein Roman idealerweise viele gleichwertige Erzählungen transportieren.
Für die Gattung Film hat einst Robert Altman ein sehr ähnliches Prinzip mit „Short Cuts“ (1993) grandios umgesetzt. In Phillips’ „Das Verschwinden der Erde“ nun, mit seiner quasi-kriminalistischen Handlungsklammer, baut sich auch durch die chronologische Abfolge der voneinander unabhängigen Erzählungen des Romans Spannung auf, die sich im Laufe des Romans dadurch verdichtet, dass immer mehr Querbeziehungen zwischen den Figuren und ihren Geschichten aufscheinen oder ahnbar werden. Es ist fast so, als gebe es irgendwo ein unterirdisches Rhizomgeflecht ineinander verschlungener Lebenswege, dessen narrative Auswüchse in unregelmäßigen Abständen irgendwo ans Licht drängen.
Dabei geht es niemals nur um die Lösung des Falles der verschwundenen Mädchen. Denn im Prinzip sind alle Erzählungen gleich wichtig. Das ist dezentralistisches Erzählen im besten Sinne. Und wenn die Autorin es zulässt, dass sich am Ende ein Kreis schließt, dann heißt das nicht mehr und nicht weniger, als dass sich nach einer langen Reihe von Zufällen endlich die richtigen Lebenswege gekreuzt haben.
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