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Die räumlichen Ressourcen wieder aktivieren

Die alte Chefin geht ans Kunstmuseum Bochum, der neue kommt aus selbstverwalteten Strukturen: Der Leitungswechsel am Kunstverein Langenhagen könnte ein Paradigmenwechsel werden. Aber zuerst bauen beide noch zusammen das „Temporäre Heimatmuseum“

Von Bettina Maria Broskwsky

Selbst wenn die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung seit mehr als einen Jahr den Kulturbetrieb lahmlegen, scheint die Personalfluktuation in den Institutionen davon wenig berührt. Im Norden etwa hat die Halle für Kunst in Lüneburg seit 1. April eine neue Direktorin, im November letzten Jahres übernahm Adam Budak die Leitung der Kestner Gesellschaft in Hannover. Ende Mai verlässt Noor Mertens den Kunstverein Langenhagen, den sie seit Anfang 2017 leitete, zum 1. Juni übernimmt Sebastian Stein ihre Funktion.

Mertens wird Direktorin des Kunstmuseums Bochum, eine mittelgroße, städtische Institution mit einem frisch restaurierten Altbau und einem Ausstellungshaus, 1983 errichtet durch die dänischen Architekten Bo und Wohlert. Sie löst dort nach 23 Jahren Hans Günter Golinski ab. Für die Position hatte sie ein Headhunter angesprochen, überzeugt habe die 36-jährige Niederländerin dann „mit ihrer Erfahrung, ihren innovativen Ideen, ihren Vermittlungskonzepten und ihrer erfrischenden Art“, sagt Bochums Kulturdezernent Dietmar Dieckmann.

Für Mertens, die in Amsterdam und Utrecht unter anderem Kunstgeschichte studiert und die Sammlung zur Moderne und Zeitgenössischen Kunst am Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam betreut hat, ist der Wechsel von dem kleinen Kunstverein mit nur einer regulären Stelle an ein personell gut aufgestelltes Museum eine logische Weiterentwicklung, nicht nur ein riesiger Karrieresprung. Besonders interessiert sie die neuerliche Arbeit mit einer Sammlung: Das 1960 als „Städtische Kunstgalerie“ gegründete Haus verfügt über Bestände historischer Kunst, Arbeiten seit dem Expressionismus sowie aus Osteuropa.

Deshalb möchte sie als erstes, gemeinsam mit dem im nächsten Jahr ausscheidenden stellvertretenden Direktor und zuständigen Kurator, diesen Fundus erforschen, danach inhaltlich erfragen, was eine Sammlung heute sein kann. Dafür möchte Mertens Künst­le­r:in­nen auffordern, sich mit der Sammlung zu befassen; sie will die klassische Präsentation aufbrechen, wechselnde Ausstellungen und Bestand sich stärker durchdringen lassen.

In Langenhagen hatte Mertens während ihrer vierjährigen Leitung ein Programm verantwortet, das für einen Kunstverein eher ungewöhnlich war, ihm aber überregionale Wahrnehmung einbrachte. Statt einzig auf jüngere, Künst­le­r:in­nen zu setzen, würdigte sie auch ältere, unbekannte und vergessene Positionen. So stellte sie 2018 den 2013 verstorbenen Niederländer Jack Jaeger vor, der, kuratorisch und journalistisch, junge Kunsttalente förderte sowie eigene, eher gebastelte „Kunstdinge“ erfand. Dazu erbat sie künstlerische Kommentare zeitgenössisch Schaffender.

2020 zeigte sie dann, erstmals in Deutschland, die angewandten Farbtheorien des Belgiers Philippe Van Snick. Oder sie ersann ein Sommerferienprogramm für Kinder im Geiste des italienischen Künstlers, Architekten und Pädagogen Riccardo Dalisi. An solch eine Mischung möchte sie in Bochum anknüpfen. Sie ist über Videokonferenzen bereits dort eingebunden und freut sich, ab Juni ganz ankommen und das Programm vorantreiben zu dürfen.

Mertens’Nachfolger in Langenhagen, Sebastian Stein, ist Jahrgang 1977, im Hannoverschen aufgewachsen, hat Ethnologie, Soziologie sowie Romanistik in Münster und Freiburg studiert, dann 20 Jahre in Frankreich, Belgien und München gelebt. Obwohl kein Kunsthistoriker oder Kunstwissenschaftler, konnte er sich bei der Jury gegen 27 Mit­be­wer­be­r:in­nen durchsetzen, heißt es offiziell.

Zugute kam ihm wohl auch, dass er seit 2019 das Vermittlungsprogramm des Kunstvereins verantwortet. Er stammt, wie er sagt, aus „selbstverwalteten Strukturen“, ist etwa Mitbetreiber der Gruppe „Ruine HQ“, die unter anderem zeitweilig einen Raum im Ihme-Zentrum Hannover bespielte.

Zum Herbst wird er dann mit eigenem Programm loslegen, er will die räumlichen Ressourcen – etwa das Schaufenster und den Garten – weiter aktivieren. Auch neue Formate wie Druckwerke und anderweitig „Zirkulierendes“ möchte er ausprobieren, der Frage nachgehen, was eine Kunstinstitution in der krisenhaften Gegenwart sein könnte, welche Rollen Kunst und ästhetische Praxis spielen.

Mertens finalisiert gerade ihre letzte Ausstellung in Langenhagen, das „Temporäre Heimatmuseum“: Alltagsobjekte aus dem Stadtarchiv werden durch Künst­le­r:in­nen kommentiert, sollen die Vielfalt lokaler Eigenheit zeigen. Sebastian Stein steuert einen Anteil mit Schü­le­r:in­nen bei, die im Verlauf der Ausstellung durch eigene Dinge und Ideen ihren persönlichen Heimatbegriff hereintragen werden. Besser könnte ein Personalwechsel nicht laufen.

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