: Im Panzer verschwinden
Das Berliner Quartett The Still hat mit „Got It“ sein zweites Album herausgebracht. Die fünf Instrumentals sind nur scheinbar ziellose Meditationen
Von Thomas Winkler
Vorsichtig steckt die Schildkröte ihren Kopf aus dem Panzer, dann die vier Füße, einen nach dem anderen. Gemächlich setzt sie einen Schritt vor den anderen, zuerst links vorne und rechts hinten zusammen, dann rechts vorne und links hinten, dann wieder von vorn, und noch einmal und wieder. Wenn man will, dann kann man sie sich so vorstellen, die Schildkröte, die „The Tortoise“ ihren Namen gegeben hat, gemütlich und bedächtig tapsend, irgendwie auf dem Weg, aber ohne Ziel, und wenn dann doch irgendwo ein Salatblatt herumliegt, ist es auch gut.
Das selbstzufrieden ausschreitende Reptil eröffnet nicht nur „Got It“, das zweite Album von The Still, es ist durchaus als programmatisch zu verstehen: Die Musik des Berliner Quartetts kommt auf leisen Füßen, aber doch festen Schrittes daher. In den fünf Instrumentals, die jeweils mindestens sieben Minuten lang sind, passiert oberflächlich hingehört nicht allzu viel, aber das sehr selbstbewusst. Die einzelnen Stücke drängen nicht irgendwo hin, sondern erkunden lieber in aller Ruhe den überschaubaren Trance-Raum, den sie abstecken.
Scheinbar ziellose Meditation
Hinter The Still verstecken sich die beiden Australier Steve Heather am Schlagzeug und Chris Abrahams, der sonst bei The Necks das Piano spielt, der Kanadier Derek Shirley am Bass und der deutsche Gitarrist Rico Lee. Lee hieß früher Repotente, hat an der Hochschule für Musik Hanns Eisler studiert, eigene Platten herausgebracht und war als Gastmusiker bei Bands wie Kitty Solaris dabei.
Lees Gitarre gibt nun die Richtung vor, in der die nur scheinbar ziellosen Meditationen von The Still aufbrechen. Dass sie sich dabei durchaus im Kreis drehen, vor allem in dem über eine Viertelstunde langen „The Chunk“, dem zentralen Stück des Albums, ist nicht nur Absicht, sondern höherer Zweck der ganzen Unternehmung. Hier schlürft Shirleys Bass mal nicht wie verschlafen, sondern nimmt, liebevoll klapsend von Heathers Schlagzeug in Gang gebracht, Fahrt auf. Die Gitarre sucht nicht nach Fährten in der Weite, sondern setzt schartige Kerben in die Landschaft. Aber selbst im angezogenen Tempo von „The Chunk“ entwickelt diese Musik niemals einen hektischen Charakter, immer weiß sie sehr gut, dass der Weg vor allem dann ein lohnendes Ziel ist, wenn man sich gar kein Ziel vorgenommen hat.
Gegründet wurden The Still ursprünglich, um einen Soundtrack einzuspielen für einen Film von Stephen Eastaugh. In „Wintertover“ dokumentierte der australische Künstler einen Winter, den er in der Antarktis verbrachte. Und bis heute kooperieren The Still mit bildenden Künstlern, zuletzt im vergangenen Jahr, als sie im Kunsthaus Kule in der Auguststraße lebender Teil einer visuellen Installation von Mareike Yin-Yee Lee waren.
Obwohl aus diesem Art-Kontext kommend, fiel ihr 2017 erschienenes Debütalbum der Rock-Fachzeitschrift Mojo auf. Das Magazin lobte die vollkommen unbekannte Berliner Formation als Bindeglied zwischen Talk Talk und Miles Davis. Klar, das war vor allem Musikkritikerprosa, aber barg durchaus auch ein paar Wahrheiten. Denn so warm die Improvisationen auch wirken, die feinen Verästelungen und kaum zu hörenden Veränderungen haben durchaus einen mathematisch exakten Charakter: minimale Verschiebungen treiben die Wahrnehmung in ihre Extrembereiche.
Es sind solche Spielchen, die verhindern, dass das wohlige Gefühl endgültig obsiegt. Aber auch, wenn sie sich der Belanglosigkeit nicht vollkommen willenlos ergeben, taugen Tracks wie „The Knot“ oder „The 54“ trotzdem als plüschige Ausstattung von Räumen, in die man sich zurückziehen kann, um zu verschwinden wie in dem schützenden Panzer einer Schildkröte.
The Still: „Got It“ (Seriés Aphōnos/ thestillgotit.bandcamp.com)
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