taz🐾thema
: fahr rad!
die verlagsseite der taz
Hoch die Flosse!
Rad weg, Läden leer gekauft – unser Autor brauchte schnell Ersatz. Gecoacht von einem Profi, wagte er sich auf eine Fahrradauktion
Von Ulf Geyersbach
Zehn Jahre hatte ich mein Batavus-Trekking-Bike („Cayenne“) kreuz und quer durch die Stadt geritten. Dann ließ ich es eine fatale Nacht am Bahnhof Gesundbrunnen stehen – eine Dummheit, es wurde gestohlen. „Wie komme ich nun an eine neues Fahrrad“, fragte ich Jim, Freund und Hofnachbar, in Sachen Fahrrad ein Professioneller. Jim kauft und verkauft, seit Jahrzehnten. Er repariert, baut um, tunt. In den Fahrradläden waren die interessanten Räder schon lange weg. „Wir fahren nächste Woche nach Wandlitz-Schönerlinde, zur Frühjahrsfahrradauktion.“ Das klang ungewöhnlich und abenteuerlich und episch, nach dem modernen Nachfahren der Pferde- oder Viehauktion. Also machte ich mich an diesem heißen 29. Mai des Coronajahres I auf den Weg.
Immer wenn ich seitdem in den Sattel steige, fühle ich mich wie ein Bewährungshelfer, denn mein neues Fahrrad, ein Kona Rove-AL-Gravel-Bike, hat eine kriminelle Vergangenheit. Das Protokoll, das am Tag unserer ersten Begegnung an seiner Querstange hing, verriet: Es wurde am 23. Juni 2019 in der Sonnenallee 271 in Berlin-Neukölln gestohlen. Der Tatverdächtige – ein „Herr E.“ – soll es an diesem Sommertag an sich genommen und in ein vermeintlich sicheres Versteck verbracht haben. Ganz offensichtlich hatte er nicht mit dem Entdeckergeschick des Polizeihauptkommissars Schmidt vom Abschnitt A54 gerechnet. Und weil das Rad niemals von seinem Besitzer abgeholt oder als gestohlen gemeldet worden war, landete es nach Ablauf der Verwahrfrist im Auftrag des Polizeipräsidenten von Berlin in den Händen der Firma Luedtke Versteigerungen GmbH.
Das Verkaufsareal lag zwischen Dönerproduktion, Car-Recycling, Getränkefachmarkt und einem Lidl mit Spargelstand. Ein Plattenweg führte auf ein zementiertes Areal, vorbei an Hunderten sichergestellten Automobilen, an Backsteinhallen, Schrottcontainern und Blechbaracken. Kurze Schlange, Anmeldung, Registrierung.
„Kauf einen Katalog“, sagte Jim. „Du musst gut vorbereitet sein.“ Ausgestattet mit Bieternummer und Notizheft betrat ich, natürlich mit Abstand und Maske, die Halle. Sie hatte etwas von Teppich-Domäne in den späten Neunzigern, von alten Hallenflohmärkten. So hatten die Tiefgaragen meiner Jugend gerochen oder die Indoorspielplätze in meiner Zeit als junger Vater. Das Publikum: mittelalte Herren im T-Shirt; Väter und Mütter mit Töchtern und Söhnen; Profihändler mit bargeldprallen Herrentaschen, neugierige Rentner unter Schiebermützen. Und urbane Jägertypen wie ich, die einfach nur nach einem guten gebrauchten Rad suchten.
Es waren an die 300 Lose, vom trendigen Peugeot-Retro-Rennrad („Taugt nix, Rahmen ist im Arsch“) zum schwarzen Herren-Trekking-Klassiker der Marken Kolhoff oder Canon. Hollandräder, Kinderräder, Roller, Rikschas. Die ganze Halle voller Waisen, die jahrelang an Laternen oder Zäunen befestigt waren – hier standen sie und machten sich hübsch für neue Pflegeeltern.
Kona Rove AL fiel mir sofort ins Auge, sein Blaumetallic stach aus dem Einheitsschwarz heraus. Eine Onlinerecherche ergab, dass es gebraucht für um die 500 bis 700 Euro gehandelt wurde. „Du musst dir eine Grenze setzen“, sagte Jim, der seit Stunden das Angebot prüfte. Er würde heute, wie auf jeder Auktion, mit dreißig bis vierzig Rädern nach Hause gehen. Rädern, die er an einem der kommenden Tage nach Berlin transportieren und Stück um Stück verkaufen würde. Ich zog das Rad vor, prüfte Reifen, Schaltung, Scheibenbremse. Ich setzte mich auf den Sattel. Rahmenhöhe passabel, Zustand perfekt. Wer um alles in der Welt hatte dieses Rad nicht als gestohlen gemeldet? Es war bizarr.
Punkt 13 Uhr, die Sonne brannte erbarmungslos. Versteigert wurde auf dem Außengelände. Keine Stühle, die Bieter standen, lehnten an Zaunpfosten und Hallentoren oder kauerten auf dem Beton. Der Auktionator hatte auf einem Podest Platz genommen. Er sprach in ein Funkmikrofon, öffnete eine Wasserflasche und legte das Sakko ab. Zwei Assistentinnen füllten Verträge aus, glichen Bieternummern ab, nahmen Bargeld in Empfang. Hier zählte nur Bares, jedes ersteigerte Rad musste – es sei denn, es waren die Profihändler – sogleich mitgenommen werden. Die zahllosen Profis mussten Unmengen Geld bei sich führen, sie kauften Rad und Rad um Rad. Aber ich hatte keinen Blick mehr für sie, die Aufregung stieg. Ab Losnummer 90, schlappe 28 Posten von meinem Wunschrad entfernt, hatte ich jedes Trinken und Atmen eingestellt. Ab 110 rührte ich keinen Finger mehr. Vor Kona kam ein ramponiertes Kinderfahrrad zum Aufruf, für 20 Lappen abgestaubt. „Du musst dranbleiben“, sagte Jim. „Geh ran, dann steigen die frühzeitig aus.“ Logo, also: Hoch die Flosse.
Vielerorts führen Verkehrsbetriebe, Fundbüros und Polizei entweder eigene Auktionen durch, oder sie lassen versteigern. Wegen der Coronamaßnahmen pausieren die Auktionen vor Ort. Doch online wird weiter versteigert. Wer mitbietet, sollte unbedingt auf den Standort achten: Die Fahrräder müssen in der Regel persönlich abgeholt werden.
Luedtke Versteigerungen auktioniert einmal im Monat Fahrräder aus den Berliner Fundbüros (Abholung in Wandlitz-Schönerlinde): luedtke-versteigerungen.de
Das virtuelle Auktionshaus von Bund, Ländern und Gemeinden, betrieben vom Hauptzollamt Gießen, versteigert laufend Fahrräder mit Standort in ganz Deutschland: zoll-auktion.de
Über die privat betriebene Plattform sonderauktionen.net versteigern Städte und Gemeinden Fahrräder aus ihren Fundbüros.
Bei 200 hatte sich das Feld gelichtet. Auch jenseits der 300 hielt ich die Hand brettsteif in die Frühlingsluft. Bei 320 stieg ein Profi aus, bei 340 hatte ich den schlaksigen Typen rechts von mir trockengelegt. „360 zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Für 360 Euro an Bieternummer 2059.“ Yes, Becker-Faust! Zuschlag! Weit unter meinem selbst gesetzten Limit von 500. Ein Schnäppchen. Ich trat vor, zeigte meine Bieternummer, blätterte die 360 Euro auf den Tisch (Verkaufsgebühren inklusive), Übergabe in der Besichtigungshalle.
Heute, ein knappes Jahr später und im zweiten Coronafrühling, hebt in Schönerlinde niemand die Hand zum Bieten, beäugt die Konkurrenz mit ihren Geldbündeln. Die Auktionen finden nun online statt. Schade!
Als ich mein frisch ersteigertes Rad über den Vorplatz schob, da fühlte es sich einfach nur richtig, richtig gut an. Ich demontierte den Sattel, stellte den Lenker quer und legte das Rad in den Kofferraum. Kona wird, das musste ich Jim versprechen, keine Nacht aus den Augen gelassen. Und schon gar nicht geparkt in Gesundbrunnen oder an der Sonnenallee.