berliner szenen: Eine Last fällt vom Balkon
Ein weißhaariger Mann manövriert auf dem Fußweg einen Container hin und her. Es sieht nicht aus, als hätte er das schon mal gemacht. Arbeitskleidung trägt er jedenfalls nicht, stattdessen: weißes Hemd, Krawatte, Lederschuhe. Als er fertig ist, gibt er ein Zeichen Richtung Balkon im zweiten Stock. Drei Jüngere haben dort Bücher auf der Brüstung gestapelt, dicke braune Wälzer mit Goldaufdruck. Einer wirft den ersten Band mit Schmackes in den Container. Ziemlich laut der Aufprall. Jetzt zwei Bände auf einmal. Es geht Schlag auf Schlag, bis der Container gut gefüllt ist.
Der alte Mann unten passt auf, dass kein Fußgänger belästigt wird, und schiebt den zweiten Container in Position. Diesmal fliegen rot eingebundene Bände vom Balkon. Wilhelm Busch Gesamtausgabe? Schopenhauer? Vielleicht juristische Fachliteratur – das Arbeitsgericht ist um die Ecke.
Für mich sieht die Angelegenheit traurig aus, als würde gerade ein ganzes Berufsleben entsorgt, all die Nachschlagewerke, die mal der ganze Stolz des Besitzers gewesen sein mögen, auf die er vielleicht lange gespart hat. Ab und zu landet ein Band daneben. Der Mann hebt ihn auf und wirft ihn schwungvoll in den Container, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen.
Nach nicht mal einer Stunde sind fünf Container gefüllt. Der Mann reibt sich die Hände, er wirkt nicht im Geringsten bedrückt, eher vergnügt, als sei ihm eine Last genommen. Inzwischen sind auch die jungen Männer von oben heruntergekommen, um die vollen Container auf einen Lkw zu hieven. Sie gucken den Alten zaghaft an, als trauten sie dem Frieden nicht. Aber der lacht und klatscht jeden einzeln ab. Im Weggehen winkt er und schüttelt beide Handgelenke in der Luft. Für ihn scheint das ein richtig gelungener Tag gewesen zu sein.
Claudia Ingenhoven
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