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Die Kugeln, die Menschen, die Bäume

In der Ausstellung „Syndemic Studies“ in der Galerie Nome thematisiert die chilenische Künstlerin Voluspa Jarpa Polizeigewalt, Aufruhr und Armut

Von Tom Mustroph

Betritt man die Galerie Nome in der Potsdamer Straße, gelangt man unvermittelt in etwas Ähnliches wie einen Kugelhagel und in mehrere Bündel von grünen Laserstrahlen. Die chilenische Künstlerin Voluspa Jarpa hat Schrotkugeln gesammelt, wie sie sich zu jeweils zwölf Stück in Gewehrpatronen befanden, die von Polizisten während der Demonstrationen in Santiago de Chile im Jahre 2019 verschossen wurden. Unzählige dieser Kugeln hängen jetzt an transparenten Fäden von der Decke herab und geben einen Eindruck von der Geschossdichte auf Santiagos Straßen und Plätzen.

Die Kugelwolken werden von Laserstrahlen durchlöchert. Die grünen Lichtstrahlen verweisen auf jene handelsüblichen Laserpointer, mit denen De­mons­tran­t*in­nen auf Polizeidrohnen zielten, um deren Kameras zu blenden. Santiagos Straßenkampf ist damit in die Berliner Galeriemeile in die Potsdamer Straße gelangt.

Diese Arbeit ist die visuell spektakulärste. In zwei Videoarbeiten dokumentiert Jarpa die Ereignisse. „We Are Filming You“ führt kurze Sequenzen aus Handyvideos zusammen, in denen Übergriffe der Polizei deutlich werden. Zivilisten werden zusammengeschlagen, auf Fahrzeuge gezerrt. Man sieht nackte Oberkörper mit blutenden Wunden. Der Screen ist in mehrere Miniscreens geteilt, die die Größe der Displays von Smartphones und Tablets haben. Nicht alle dieser Displays werden permanent bespielt. Vielmehr ergeben sich Mosaikartige Konstellationen aus blinden Flecken und Sequenzen von Gewalt und Übergriffen. Das Videomaterial behält seine Rohheit und Unmittelbarkeit.

In „25. Oktober 2019“ überlagert Voluspa Jarpa Bewegungssequenzen von De­mons­tran­t*in­nen und Pas­san­t*in­nen auf der Plaza Italia in Santiagos Innenstadt. Durch zeitliche Verschiebung der Überlagerungen scheinen sich die Einzelpersonen zu vervielfältigen. Verschiedene Gegenwarten beanspruchen so den gleichen Raum. Die Statue des Generals Baquedano, der dem Platz eine Zeit lang den Namen gab, ist auf dem Video noch zu sehen. Mittlerweile wurde sie entfernt; Baquedano leitete die Kolonisierung Araukaniens und schloss mit Gewalt das Siedlungsgebiet der Mapuche an den chilenischen Staat an.

Besondere Stringenz und analytische Tiefe beweist die Künstlerin mit einer Werkserie aus künstlerisch-forensischen Arbeiten. Sie fotografierte die Rinde von Bäumen, in denen zahlreiche Polizeigeschosse einschlagen waren. Aus der Tiefe und dem Einschlagwinkel rekonstruierte sie die Flugbahnen. Sie fand dabei heraus, dass viele Geschosse aus unmittelbarer Nähe abgeschossen worden sein mussten. Das allein stellt bereits eine Gesetzesverletzung dar. Distanzen ab 30 Meter sind laut Einsatzordnung der Polizei vorgesehen. Jarpa analysiert auch die große Menge an Augenverletzungen durch Schusswaffeneinsatz der Polizei. Dies ist Beleg für die Nähe, aber auch für die Körperteile, die offenbar anvisiert wurden. In Bild-Text-Tafeln entwickelt die Künstlerin ihre Argumentation.

Den Titel „Syndemic Studies“ entlieh Jarpa der medizinischen Anthropologie. Mit dem Ausdruck „syndemisch“ werden die Überlagerung verschiedener Epidemien und die damit verbundenen oft katalysatorischen Wechselwirkungen beschrieben. Als epidemisch gelten für Jarpa in diesem Zusammenhang die krassen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten in ihrer Heimat, die postkolonialen Machtverhältnisse, Rassismen und Sexismen. Als 2019 die Nahverkehrstarife in Santiago erhöht wurden, entlud sich der aus vielen Quellen gespeiste Zorn in Revolten, die von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen wurden.

Die Coronapandemie breitet sich wie ein Schleier über diese Gemengelage aus. Jarpas künstlerisch-forensische Tätigkeit macht sie nun sichtbar und ruft sie in Erinnerung. „Therapiert“ ist diese syndemische Situation sicherlich nicht. Die Kugelwolke, die Be­su­che­r*in­nen im Galerieraum umgibt, kann immer wieder neu an den verschiedensten Orten ganz real entstehen.

Die Ausstellung ist nach Voranmeldung über die Website oder per Telefon in verabredeten Zeitfenstern zugänglich. Bildmaterial zu den Arbeiten gibt es auch auf der Website.

Galerie Nome, bis 14. Mai; www.nomegallery.com

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