Wissen, was wir nicht wissen können

Chaos und Vernichtung als Ergebnis einer technokratischen Weltsicht

Fabian Scheidler: „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Piper Verlag, München 2021, 304 S., 20 Euro

Von Annette Jensen

Die Vorstellung, dass natürliche Systeme wie Galaxien, Atome oder Zellen aus isolierten Elementen zusammengesetzt sind und damit im Prinzip Lego-Baukästen ähneln, ist zwar weitverbreitet – aber grundfalsch. In der Physik und Biologie ist das längst klar. Doch das mechanistische Weltbild, das vor Jahrhunderten entstanden ist, wirkt fort im aktuellen Wirtschaftssystem und in staatlichen Institutionen: Mensch und Natur werden als quantifizierbare und berechenbare Einheiten betrachtet, deren Output sich in Geld oder CO2-Einheiten darstellen lässt.

Im Prinzip gilt alles als digital abzubilden, plan- und lenkbar. Dieses Denken nimmt für sich in Anspruch, rational zu sein und diffamiert die Innensichten von Menschen und anderen Lebewesen als „subjektiv“, nur weil sie einer allgemeinen Zugänglichkeit versperrt sind. Dass es aber selbstorganisierte Prozesse mit vielfältigen Beteiligten sind, die seit jeher den Weltenlauf ohne Chef und Plan vorantreiben, ignoriert die dominierende Weltsicht.

Zu diesem Thema sind in den vergangenen Jahren bereits einige Bücher erschienen – doch Fabian Scheidlers neues Werk ist auch für bereits kundige Le­se­r*in­nen ein großer Gewinn. Nicht nur gelingt es ihm, die Grundlagen der modernen Physik und Biologie in ihren Tiefenstrukturen gut darzustellen und Hilfskonstrukte wie dunkle Materie oder Stringtheorie als „pseudowissenschaftliche Mythologie“ zu entlarven. Er findet auch anschauliche Darstellungsformen dafür, was beispielsweise alles in einer Zelle los ist. Deutlich wird, was die Menschheit alles nicht weiß – und nicht wissen kann.

Das Ergebnis der technokratischen Weltsicht sind Chaos und Vernichtung: Klimakatastrophe, Massenaussterben, Pandemien. Aus systemischer Perspektive überrascht das nicht. „Jeder Versuch, in komplexen lebenden Kreislaufprozessen bestimmte Parameter auf lineare Weise zu maximieren – zum Beispiel den wirtschaftlichen Output – führt notwendigerweise zu unerwarteten Reaktionen in anderen Teilen des Systems,“ so Scheidler.

Dass gesellschaftliche Umbrüche bevorstehen, steht für ihn außer Frage. Er bedauert, dass die Regierungen die Chance durch Corvid-19 verschlafen haben und erneut mit einer Eskalation linearer Techniken reagierten: „Chemische Spritzkanonen – und im Übrigen weiter so wie bisher.“ Doch genau wie natürliche Systeme sind auch soziale Strukturen lebendig, ihre Neuorganisation ist weder plan- noch vorhersehbar.

„Was an einem solchen Kipppunkt geschieht, hängt entscheidend davon ab, was die Menschen in der Zeit davor, also in scheinbar unbewegten Phasen, getan und gedacht haben.“ Genau aus diesem Grund ist Scheidlers Buch eine große Leserschaft zu wünschen. Es gibt wichtige Hinweise, wie Menschen heute eine zukunftsfähige Gesellschaft mit vorbereiten können.