Bernardine Evaristo über Sichtbarkeit: „Die Verlage sind aufgewacht“
„Mädchen, Frau etc.“ handelt von 12 Schwarzen Menschen in Großbritannien. Ein Gespräch mit Autorin Bernardine Evaristo über Diversity und Wandel im Literaturbetrieb.
taz: Frau Evaristo, in Ihrem Buch „Mädchen, Frau, etc.“ geht es um das Leben von zwölf Schwarzen britischen Personen – elf davon sind Frauen, eine ist nichtbinär. Wieso wollten Sie diese Geschichten erzählen?
Bernardine Evaristo: Als ich 2013 begann, das Buch zu schreiben, waren Schwarze Frauen in der britischen Literatur unsichtbar. Auch ich hatte schon viele Bücher geschrieben, in denen Schwarze Frauen vorkamen, aber keines davon hatte ich ausschließlich den Geschichten dieser Frauen gewidmet. Also dachte ich mir: Ich schreibe ein Buch mit so vielen Schwarzen Frauen wie möglich, um damit zu beginnen, unsere Abwesenheit in der Literatur auszugleichen.
Weshalb ist es wichtig, diese Sichtbarkeit herzustellen?
Das ist eine große Frage. Es sagt viel über unsere Marginalisierung in der Gesellschaft aus, dass wir in der Literatur kaum sichtbar waren. Wenn du in einem Land lebst, an diesem Land aber nicht auf allen Ebenen teilnimmst, dann gibt es eine gewisse Lücke in deinem Leben. So ging es mir, als ich in den 60ern und 70ern aufgewachsen bin. Und dann habe ich gemerkt, dass das ja im 21. Jahrhundert immer noch passiert.
Sie haben zwölf sehr unterschiedliche Charaktere entwickelt: darunter sind Studierende, Großmütter, Queers, eine Landwirtin, eine Investmentbankerin. Manche von ihnen sind radikale Feministinnen, andere können mit Feminismus nichts angefangen.
Man sollte beim Lesen nicht nur ein oder zwei Erzählungen begegnen. Mir war es wichtig, sie so divers, so unterschiedlich wie möglich zu haben. Das hat bedeutet, Protagonistinnen mit unterschiedlichem Alter abzubilden, die verschiedene Zeiten in Großbritannien erlebt haben, die verschiedene Hintergründe haben. Es war wichtig, dass manche auf dem Land leben, manche in der Stadt, dass sie unterschiedliche Jobs haben.
Haben Sie ein feministisches Buch geschrieben?
Manche sagen das. Wenn ich es so bezeichnen würde, würden die Leute denken, ich wollte ihnen ein feministisches Argument auftischen. Aber das ist dieses Buch nicht, es hat nicht einfach ein feministisches Argument.
Jahrgang 1959, ist Autorin, Theatermacherin und Professorin für Kreatives Schreiben an der Londoner Brunel-Universität. Sie war 1982 Mitgründerin des Theatre of Black Women, das erste britische Theater für Schwarze Frauen. Ihr achtes Buch, „Girl, Woman, Other“, erhielt neben zahlreichen Auszeichnungen im Jahr 2019 auch den britischen Booker Prize, das Buch ist im Januar im Tropen Verlag unter dem Titel „Mädchen, Frau etc.“ auf Deutsch erschienen.
Sie setzen sich darin detailliert mit verschiedenen politischen Positionen und radikalen Diskursen auseinander.
Es hat sich für mich natürlich so angefühlt, dass manche dieser Charaktere, die unterschiedliche Aspekte des Frauseins beleuchten, sich politisch auseinandersetzen würden. Wenn ich von Yazz schreibe, einer 19-jährigen Studentin, muss sie an den politischen Debatten teilhaben, die junge Frauen in diesem Moment führen. Yazz unterscheidet sich damit von ihrer Mutter, die in den 80ern politisiert wurde. Oder von Morgan, einer nichtbinären Person, mit der ich Fragen rund um Geschlecht vertiefe. Ich möchte nicht, dass es klingt, als seien diese Probleme der Ausgangspunkt gewesen. Der Ausgangspunkt war, verschiedene Charaktere zu entwickeln. Da war es selbstverständlich, dass sie politischen Kämpfen auf ganz unterschiedliche Weise begegnen.
Sie schreiben seit vierzig Jahren, auch Ihre vorherigen Romane kreisten um verwandte Themen. Wie erklären Sie sich, dass Sie jetzt, mit Ihrem achten Buch, so einen Durchbruch erzielt haben?
Literaturpreise werden von denen geformt, die sie vergeben. Noch vor einigen Jahren bestand die Jury des Booker Prize nur aus Personen des Establishments. Das waren natürlich mehr Männer als Frauen, man müsste mal rausfinden, wie viele von ihnen in Cambridge oder Oxford studiert haben, wahrscheinlich die meisten. Als ich gewonnen habe, war es eine sehr unübliche Jury: Es waren mehr Frauen als Männer, zwei davon waren of Color. Das hat es davor noch nie gegeben. Es geht immer um die Qualität von Literatur, aber auch darum, wer den Geschmack bestimmt, wer determiniert, was Qualität eigentlich bedeutet. Ich habe diesen Preis bekommen, weil die Jury mein Buch verstanden hat. Wäre es eine andere Jury gewesen, hätte mein Buch vielleicht nicht gewonnen.
Amma, eine der Protagonistinnen, macht feministisches Theater. Als sie die Gelegenheit hat, im National Theatre aufzuführen, hadert sie damit, plötzlich mitten im Mainstream zu sein. Auch Sie haben Theater gemacht, auch Sie arbeiten politisch, auch Sie haben nun durch den Preis eine größere Bühne. Erkennen Sie sich in Ammas Geschichte wieder?
Nein, wir unterscheiden uns. Amma hat sehr lange am Rande der Branche gearbeitet. Ich nicht. Ich werde seit zwanzig Jahren von einem der weltweit größten Verlage verlegt. Ich bin Professorin. Ich gehöre längst zum Mainstream, auch wenn der Preis mich weltweit noch mal bekannter gemacht hat. Und ich glaube, dass wir in den Strukturen sein müssen, im Establishment. Dort ist die Macht. Wir müssen innerhalb dieser Räume etwas verändern und sie egalitärer machen.
Dafür setzen Sie sich schon sehr lange ein. Lässt sich heute noch über Diversität und Repräsentation sprechen, ohne dass diese blumigen Begriffe zu Worthülsen werden?
Es stimmt, Diversität ist zu einem Klischee geworden. Manchmal spreche ich deswegen lieber von Inklusion. Aber bei Diversität geht es im Grunde darum, allen die Möglichkeit zu geben, vollumfänglich an der Gesellschaft mitzuwirken. Das möchte ich für die Künste, für die Literatur. Welche Sprache das ermöglicht, ist mir letztlich völlig egal.
Als Sie den Booker Prize erhielten, sagten Sie in Ihrer Dankesrede, dass Sie die erste Schwarze britische Frau seien, die diesen Preis bekommt. Wieso war es Ihnen wichtig, in diesem Moment darauf hinzuweisen?
Weil viele Menschen das nicht wissen. Sie wissen nicht, wie sehr wir als Frauen und Menschen of Color marginalisiert werden. Es war ein historischer Moment, ich wollte rausholen, was geht. Ich habe ein politisches Statement gemacht. Es ist wichtig, dass die Leute das wissen, weil wir dann Fragen stellen müssen: Wieso braucht es so lange, bis diese Menschen in diese Positionen kommen?
Und wie lautet die Antwort auf diese Frage?
Das hängt damit zusammen, dass diese Industrie eine sehr traditionelle, sehr weiße, mittelschichtige Industrie ist. Sie ist sehr „Oxbridge“. Die Gesellschaft wird nicht in den Entscheidungspositionen abgebildet. Aber das ändert sich. Black Lives Matter war ein wichtiger Katalysator, weil gezeigt wurde, dass Rassismus nicht nur in den USA passiert, sondern auch hier in Großbritannien, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die Verlage sind aufgewacht, weil die Menschen sie gefragt haben, wieso sie uns nicht veröffentlichen.
Sie bereiten mit Ihrem Verlag eine Reihe vor, in der vergessene Werke von Schwarzen Brit:innen neu aufgelegt werden. Was bringt so eine Neuauflage?
Ich spreche ja die ganze Zeit darüber, dass Literatur von Autor:innen of Color verlegt und dann gleich wieder vergessen wird. Niemand weiß, dass sie existiert haben. Jedes neue Buch von Personen of Color wird behandelt, als sei es das erste, als habe diese Literatur keine Geschichte und kein Fundament. Mein Verlag hat mich gefragt, wieso wir nicht welche dieser vergessenen Werke zurückbringen. Die Reihe nennt sich „Black Britain: Writing Back“. Ich habe sechs Romane ausgesucht, der erste ist von 1936: „Minty Alley“ von C. L. R. James. Diese Bücher haben die Zeit überstanden. Sie werden heute auf eine Weise gelesen werden, wie sie es früher nicht wurden.
In sozialen Netzwerken teilen Sie häufig Arbeiten von neuen britischen Gegenwartsautor:innen. Welchen jungen Stimmen sollte man gerade zuhören?
Da gibt es immer mehr. Es gibt Sachbücher wie „Brit(ish)“ von Afua Hirsch, „Loud Black Girls“ von Elizabeth Uviebinené und Yomi Adegoke. Es gibt die Gothic Novelsvon Sarah Collins oder die Romane von Diana Evans. Sie sehen, es ist heute anders als noch vor zehn Jahren. Ich hoffe, dass diese Autor:innen weiterhin veröffentlichen werden, dass wir bald eine Literatur haben, die alle in diesem Land widerspiegelt, und dass wir dann nicht mehr über dieses Thema sprechen müssen.
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