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Archiv-Artikel

Die eine wurde zur Heiligen – die andere zu „unwertem Leben“

FAMILIENGESCHICHTEN Die frühere Bremer taz-Mitarbeiterin Kerstin Schneider hat sich auf die Suche nach verschwiegenen Kapiteln in ihrer Familiengeschichte gemacht. Zwei psychisch auffällige Frauen begegneten ihr dort: Magdalena wurde seit dem späten 19. Jahrhundert wie eine Heilige verehrt, Marie 1942 von den Nazis ermordet

„Zum Zwecke der Sparung von Lebens- und Heilmitteln mussten schwer- und unheilbar Kranke hingerichtet werden, um anderen Platz zu machen.“ Robert Herzer

Von Klaus Wolschner

Das Grab auf dem Hauptfriedhof in Mannheim, dort, wo auch der berühmte Dramatiker und Schriftsteller August von Kotzebue beerdigt ist, liegt etwas abseits. Efeu kriecht über die Erde vor dem schlichten Stein aus Granit. Bis vor wenigen Monaten schmückte es der wohlklingende Titel „Medizinalrat“. Daneben prangt der Äskulap-Stab, das Wahrzeichen der Heilkunst schlechthin. Robert Herzer starb 1969 im Alter von 59 Jahren. „Uneigennützig und mit großem persönlichen Einsatz“ habe er „die Interessen des TÜV vertreten“, lobte sein Arbeitgeber, der Technische Überwachungsverein Baden-Württemberg, in einer großformatigen Todesanzeige und versprach, Herzers „Andenken stets in Ehren“ zu halten.

Das dürfte nun schwierig werden. Denn wie die Stern-Redakteurin Kerstin Schneider (früher taz) in ihrem Buch „Maries Akte“ nachweist, war Robert Herzer ein Mann, der während der NS-Zeit psychisch kranke Menschen, hilflose Patienten ermordete, und dazu auch ein Hochstapler: Herzer war im Medizinstudium kläglich gescheitert, wurde im Dienst der Nazis zum „Arzt“ und wies damals seine medizinische Qualifikation mit der Abschrift einer Ernennung durch Adolf Hitler zum „Medizinalrat“ nach. Als falscher Arzt machte er sich den Nazis nützlich bei der Vernichtung von unwertem Leben, so dass niemand genauer nachfragte. Nach 1945 wurde er in der DDR verurteilt – und half im medizinischen Dienst im Gefängnis aus. So kam er vorzeitig frei, die Behörden gingen davon aus, er wolle dem Sozialismus dienen.

Er flüchtet aber schnell in die Bundesrepublik Deutschland und machte hier wieder als „Arzt“ beim TÜV Karriere. Eine medizinische Karriere, die in der deutschen Kriminalgeschichte wohl einzigartig sein dürfte. Auf erheblichen Druck der Buchautorin Schneider hin ließ die Familie schließlich im Frühjahr den Grabstein mit dem falschen Titel von dem Grab entfernen.

Vor fünf Jahren hatte sich die Journalistin Schneider auf die Suche nach ihrer Großtante Marie gemacht. Eine Frau, über die in Familienkreisen nicht gesprochen wurde. Nur hinter vorgehaltener Hand raunten sich die Verwandten zu, dass Marie am Ende in einer Irrenanstalt gelebt habe und dort gestorben sei. Bei ihrer Beerdigung war niemand dabei gewesen.

Im Staatsarchiv Leipzig fand Kerstin Schneider schließlich Maries alte Krankenakte und rekonstruierte ihr Schicksal. Marie war 1942 auf mysteriöse Weise im sächsischen Landeskrankenhaus Großschweidnitz ums Leben gekommen. Wie über 5.000 Patienten mit ihr, die im Rahmen der NS-Euthanasie in Großschweidnitz mit Luminal vergiftet wurden. Maries Arzt war ein Robert Herzer gewesen. 1947 wurde Herzer vom Landgericht Dresden wegen Mordes an seinen Patienten zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Dass er gemordet hatte, versuchte Herzer nicht einmal zu beschönigen. „Zum Zwecke der Sparung von Lebens- und Heilmitteln mussten schwer- und unheilbar Kranke hingerichtet werden, um anderen Platz zu machen“, sagte er in seiner Vernehmung vor dem DDR-Gericht. Auch Einsicht zeigte er keine: Er fühle sich nicht schuldig, weil er „unter dem Schutz eines Reichsgesetzes handelte“, erklärte er seinen Richtern.

Nur wenige Monate, nachdem Herzer als Massenmörder rechtskräftig verurteilt worden war, durfte er im DDR-Gefängnis als Vertreter des Gefängnisarztes wieder medizinisch tätig werden, und zwar mit dem ausdrücklichen Segen des Justizministeriums der DDR. 1955 wurde er vorzeitig freigelassen – es herrschte Mangel an medizinischen Fachkräften in der DDR. Herzer hatte bei den DDR-Oberen einen so guten Eindruck gemacht, dass sie glaubten, er würde im sowjetischen Besatzungsgebiet bleiben.

Doch Herzer ging nach Mannheim. Noch im gleichen Jahr fand er wieder einen Job als „Arzt“, half dem TÜV als freier Mitarbeiter beim Aufbau des „Medizinisch-Psychologischen Institutes in Mannheim“. Um zu verhindern, dass ihn seine Vergangenheit einholte, fälschte Herzer seine Biographie. „Gerichtliche Strafen: keine. Dienstliche Strafen: keine, trug Herzer in seinen Personalbogen ein. Herzer stieg zum Leiter des Medizinisch-Psychologischen Instituts des TÜV in Baden auf, führte den wohlklingenden Titel „Medizinalrat“, einen Titel, den Hitler ihm angeblich 1944, kurz vor Kriegsende, noch schnell verliehen hatte.

Dass sich in Herzers alten Personalakten keine Universitätszeugnisse, sondern nur dubiose Abschriften befanden, ließ Kerstin Schneider stutzig werden. Die Journalistin recherchierte in alten Universitätsarchiven und förderte Erstaunliches zutage. Herzer war 1932 in Würzburg und Heidelberg zwei Mal kurz hintereinander durch das medizinische Staatsexamen gefallen. In seiner Personalakte hatte er stets angegeben, am 15. September 1936 an der Universität Leipzig sein medizinisches Staatsexamen abgelegt und bestanden zu haben. Doch Herzer taucht in den Akten der Universität weder unter den Angemeldeten noch unter den Prüflingen auf.

Dass Herzer bei den Nazis trotzdem als „Arzt“ Karriere machen konnte, verdankte er seinen vielfältigen nationalsozialistischen Kontakten. Er war nicht nur in der NSDAP, sondern auch in der SA, meldete sich freiwillig zur Waffen-SS. „Robert Herzer war ein Massenmörder und ein Hochstapler, der im wahrsten Sinne des Wortes für seine Karriere über Leichen ging“, sagt die Journalistin. Selbst dass Herzer 1944 von Hitler tatsächlich zum Medizinalrat ernannt worden ist, bezweifelte sie am Ende ihrer Recherche. „In Herzers Akte liegt nur eine nicht unterschriebene Abschrift einer Ernennungsurkunde. Im Bundesarchiv existiert jedoch kein Original dieser Urkunde, es gibt dort keinen Hinweis auf die Vergabe dieses Titels an Herzer.“

„Dass Herzers Opfer namenlos verscharrt sind in Massengräbern, während ihr Mörder noch immer auf dem Mannheimer Friedhof als ,Medizinalrat‘ geehrt wird, fand ich unerträglich“, sagt Schneider. Herzers Nachfahren, arrivierte und angesehene Persönlichkeiten in ihrem Beruf, reagierten angefasst, als sie nach der Inschrift auf dem Grabstein angesprochen wurden. Einer von Herzers Nachkommen habe nur ins Telefon gebrüllt: „Auf meinen Vater lasse ich nichts kommen. Und was auf dem Grabstein steht, geht Sie gar nichts an“, berichtet sie. Als die beim Friedhofsamt nachfragte, erklärt das sich nicht zuständig. Was auf Grabsteinen stehe, beschieden die Beamten, sei Privatsache. Schneider ließ nicht locker, irgendwann im Frühjahr wurde der Grabstein abtransportiert.

Marie liegt in Großschweidnitz mit den anderen Euthanasie-Opfern namenlos verscharrt in einem Massengrab. Die Klinik verweigerte Maries Familie 1942 sogar, sie anständig zu beerdigen.