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Die gute Stube der lebenden Toten

Die Ausstellung zum zehnten Paula-Modersohn-Becker-Kunstpreis findet vorerst nur digital statt. Die nominierten Künstler:innen provozieren mit der beunruhigenden Konfrontation von Gegensätzlichem

Von Patrick Viol

Vor Ikea und Ebay-Kleinanzeigen waren deutsche Wohnzimmer vollgestellt mit Vollholzmöbeln. Aus Nussbaum oder Teakholz, vor allem aber aus Eiche. Mit der Handwerksqualität kamen Ordnung, Funktion und einheitliche Erscheinung ins Heim. In den Vitrinen befanden sich Punsch- und Warsteiner-Gläser sowie das Porzellan-Teeservice für besondere Anlässe. Weil die aber so gut wie nie anstanden, nahmen die Gläser und Tassen mit den Jahren den Muff der nie geöffneten Schränke an. Die rochen dann so, wie sich die Arbeiter- und Angestelltenpaare, die sich für viel Geld mit solchen Möbeln umgaben, mit den Jahren fühlten: alt, elend und so gut wie tot. Mit Eichenholzmobiliar vollgestopfte Wohnzimmer – das waren Särge von lebenden Toten.

Es sind diese Wohnzimmer mit ihren spezifischen Dingen, die heute fast nur noch in der individuellen Erinnerung und Trash-TV-Formaten wie „Schwiegertochter gesucht“ existieren, mit denen sich die Künstlerin Susanne Kutter intensiv auseinandersetzt. Die künstlerische Verarbeitung von deren Eigentümlichkeit wie die Reflexion auf deren gesellschaftliche Bedingung bilden das Zentrum ihres Gesamtwerks, das im November für den zehnten Paula-Modersohn-Becker-Kunstpreis des Landkreises Osterholz nominiert wurde. Vergeben wird der Preis im Februar.

Neben Kutters Arbeiten stehen noch die Werke von Diana Mercedes Alonso, Laurenz Berges, Gabriela Oberkofler, Nikola Röthemeyer, Antje Schiffers und Tilo Schulz zur Auswahl. Ausgestellt sind sie in der Großen Kunstschau und im Barkenhoff in Worpswede. Unter dem Motto „Geschlossen, aber sichtbar“ hat man die Ausstellung samt Kuratorenführung ins Netz verlegt. Bei aller – für einen Kunstpreis typischen – Verschiedenheit der Arbeitsweisen und des Materials der Künstler:innen tritt eine Gemeinsamkeit in ihren Arbeiten auf: Sie setzen die Betrachter:innen einer fast körperlich beunruhigenden Konfrontation von Gegensätzlichem aus. Bei Schulz etwa sind es Bewegung und Starre, bei Berges die Präsenz von Abwesenheit. Am plakativsten und zugleich sublimsten gelingt diese Konfrontation jedoch Kutter.

Das Gesamtwerk der Künstlerin besteht aus Installationen, Performances, Skulpturen, Fotografien und Videos. In den meisten Medien wird die – manchmal auch nur drohende – Zerstörung aus der Zeit gefallener Einrichtungsgegenstände verhandelt. In der Performance „Herrn Orleanders großer Auftritt“ wirft Kutter beispielsweise einen Kronleuchter von einem mehrere Meter hohen Baugerüst zu Boden. Im Barkenhoff ist ein zerstörter Leuchter als Wandskulptur zu sehen. In der Performance „Thanksgiving Plot“ kippt die Künstlerin eine Vitrine leicht nach vorn, sodass sie schräg auf den Unterkanten der geöffneten Türen steht und sich Gläser und Porzellan in einen Scherbenhaufen am Boden verwandeln. Die Skulptur „Foreign“ zeigt eine Keramikvase, die mit Epoxidharz auf der Kante eines Wallnussholzregalbretts befestigt wurde. Eine ähnlich Vase hängt im Barkenhoff auf halb sieben.

In Kutters zwei- bis fünfminütigen dokumentarischen und nur mit Überblendungen zur Kürzung des Filmmaterials und einer Perspektive arbeitenden Videos werden nicht nur einzelne Gegenstände zerstört. In den Videos „Moving Day“, „Flooded Home“ und „Die Zuckerdose“ werden lebensgroße Wohnzimmermodelle geschrottet, die Kutter mit Seconhand-Interieur nur für die Videos, also ausschließlich zur Dekonstruktion baut. Die Zerstörung betrachtet man in den ersten beiden Videos aus der Tür-Perspektive, im letzten von oben.

Für „Moving Day“ hat Kutter ein Wohnzimmer in einem Baucontainer eingerichtet, das dadurch zerstört wird, indem der Container – nicht sichtbar – von einem Fahrzeug durch den Verkehr gezogen wird. In „Flooded Home“ wird ein ebenso menschenleeres Wohnzimmer durch Wasser zerstört, das aus einem Schlauch von der Decke strömt und den ganzen Raum füllt. In dem, im Barkenhoff gut in Szene und Sound gesetzten Video „Die Zuckerdose“ sind im Unterschied zu den beiden anderen Videos in der ersten Einstellung nur die linke und rechte Hand von zwei Menschen an einem zum Teetrinken gedeckten Tisch zu sehen. Man hört Strauss’ Rosenkavalier und sieht einen missglückten Annäherungsversuch der einen Hand an die regungslos bleibende andere. Danach zoomt die Kamera raus und man sieht fast das ganze Wohnzimmer. Nur die Wand am oberen Bildrand nicht. Motorengeräusch erklingt und es schieben sich langsam von oben weitere Möbelstücke ins Bild, die andere umstoßen. Es wird erkenntlich, dass die obere Wand von schwerem Gerät auf die untere geschoben wird. Alles im Raum wird zerquetscht.

Im Kontrast zu diesen drei Videos steht die Arbeit „Trilogie der Illusion“, zwar auch aus der starren Seiten­perspektive gefilmt, aber das Bild wechselt hier zwischen vier ausgeräumten, renovierungsbedürftigen Wohnräumen hin und her. Man sieht scheinbar riesige, lebende Insekten. Beim genauem Hinsehen erkennt man, dass die Räume aus kleinen Pappkartons gebastelt sind, weshalb die Insekten so riesig erscheinen.

Mit Eichenholzmobilar vollgestopfte Wohnzimmer – das waren die Särge von lebenden Toten

In Kutters Arbeiten geht es nicht nur um die Konfrontation von Gegensätzlichem, wie einer feststehenden Ordnung mit Fragilität und Unsicherheit, die dem Leben an sich zukämen, wie es in einigen Werkbeschreibungen heißt: Es geht um die Bedingungen der Gegensätze und der Offenbarung ihrer zerstörenden Konfrontation als Ausdruck ihrer Verschränkung.

Ist die sichtbare Zerstörung wie die Illusion Resultat außerhalb des Bildrahmens liegender Bedingungen, auf die man nur durch Geräusche, notwendige Annahmen und analytisches Betrachten schließen kann, so reflektiert sich in Kutters Videos die Zerstörung des Privaten als Resultat eines nicht unmittelbar einsehbaren Verhältnisses von Mensch, Maschine, Technik und Verkehr.

Es stehen sich somit nicht funktionierende Ordnung und Zerstörung unvermittelt gegenüber, sondern die Katastrophe ist der Vollzug der Ordnung. Und indem Kutter Insekten als Akteure in leere Wohnzimmer holt und damit funktionsgleich mit den Möbeln setzt, verweist sie auf die nicht abgeschaffte Naturhaftigkeit der Ordnung der Dinge: auf das kapitalistische Produktionsverhältnis von Waren, in dem die Menschen nur Mittel der Produktion und keine Zwecke sind und von den Dingen beherrscht werden, statt sie zu kontrollieren.

Insofern geht die Zerstörung des Privaten nicht erst von Homeoffice und Social Media aus, sondern grundsätzlich von der zu verdrängenden Kränkung durch die Dinge in Warenform, mit denen wir uns umgeben. Die halten uns stets vor, dass man als Individuum in unserer Gesellschaft über sein Leben nicht verfügt. Wodurch sich letztlich mit der Zeit das Leben selbst verflüchtigt und die Wohnung zum Sarg wird. Daran ändert auch der ­Secondhand-Chic heutiger WG-Zimmer nichts. Kutter konfrontiert uns mit dem verdrängten Schrecken, den die Dinge um uns herum auslösen und macht sicht- und hörbar, dass deren Produktionsverhältnis unser Leben im heiligen Zuhause zu einem Scherbenhaufen gebrochener Herzen und enttäuschter Erwartungen werden lässt.

Die digitale Ausstellung zum Paula-Modersohn-Becker-Kunstpreis: www.worpswede-museen.de

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