wortwechsel
: Waldorfpädagogik –
außer Kraft im Lockdown?

Etwa 250 autonome Waldorfschulen mit jeweils individuellen Konzepten in kollegialer Selbstverwaltung gibt es in Deutschland. Dulden einige von ihnen Verschwörungsmythen?

Der Länder­entwurf zur Maskenpflicht in Corona­hotspots ab Klasse sieben verändert den Alltag in allen Schulen.Hier zu sehen: ein staatliches Gymnasium in München Foto: Matthias Balk/dpa

„Waldorfschulen und Corona: Gefährliche Freiräume. Die Waldorfpädagogik baut auf „Erziehung zur Freiheit“. In der Pandemie ist an Waldorfschulen nicht klar, wo Freiheit aufhört und Diktatur beginnt“, taz vom 5./6. 12. 20

Pandemie-Politisierung

Liebe taz-Redaktion, wir sind froh über die Berichterstattung – auch wenn der Anlass kein positiver ist. Sie haben recht: Es gibt auch an unserer Schule, der Freien Waldorfschule Ulm Römerstraße, eine Strömung innerhalb der Lehrerschaft und bei einigen Eltern, die wir den Querdenkern und ähnlichen Gruppierungen zuordnen. Was wir aber klarstellen möchten, ist, dass diese Gruppe nicht repräsentativ ist. Ein Großteil der Elternschaft steht zu den Hygienemaßnahmen und ist nicht an einer Politisierung der Pandemie innerhalb der Schule interessiert. Leider schaffen es einige wenige Menschen, mit viel Geschick ihre Themen zu platzieren und so die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. Der Protest an sich fällt in den Bereich der freien Meinungsäußerung – die ja trotz der vielfach von Corona-Leugnern und der AfD behaupteten „Corona-Diktatur“ offensichtlich unverändert möglich ist. Der Vorstand, die Geschäftsführung und die Personalführung unserer Waldorfschule stehen ganz klar zu den Schutzmaßnahmen gegen Corona. Sie setzen die geltenden Vorschriften so gut und konsequent wie möglich um. Der pädagogische Auftrag der Schule wird allerdings durch Personen, wie den im Artikel zitierten Lehrer, Wilfried Keßler, massiv gestört. Statt die Schüler*innen konstruktiv durch diese Zeit zu begleiten und mögliche Ängste zu nehmen, werden diese durch haltlose Behauptungen und Falschinformationen bewusst geschürt.

Diejenigen Eltern, die unserer Schulleitung den Rücken stärken möchten, können und wollen dies im Schulbereich nicht tun, um die Schule nicht für die politische Auseinandersetzung zu missbrauchen. Und so entsteht ein schiefes Bild, das wir mit diesem Leserbrief gerade rücken möchten. Wir, die Autor*innen dieses Leserbriefs, erleben unsere Schule als sehr starke Gemeinschaft im besten Sinne. Wir nehmen unsere Kinder als fröhliche, interessierte Schüler*innen wahr, mit tollen, engagierten Lehrer*innen, die die Kinder verantwortungsvoll durch diese Zeit begleiten. Die Verwerfungen unserer Gesellschaft machen jedoch vor den Schulen, egal ob staatlich oder in privater Trägerschaft, nicht halt. Gerlinde Koch, Oliver Haug, Kaja Haeger, Martin Müller, Carmen Kutter, Vanessa De Blasi, Malte G. Römer, Jürgen Dellinger, Ulm

Esoterische Großmacht?

Es ist kein Zufall, dass die Initiative „Querdenken“ ihren Ausgang in Stuttgart hat, der Hochburg der Impfgegner, der Anthroposophie und Waldorfpädagogik, die längst eine esoterische Großmacht sind. Auf dem hauseigenen „Anthroblog“ ist von „Gesundheits-Regime“, einer „dogmatisierten wissenschaftlichen Expertise“ und „Lügenäther“ die Rede. Michaela Glöckler, die führende anthroposophische Medizinerin, setzt Corona mit der Grippe gleich, plädiert für Herdenimmunität und lehnt impfen ab. Mit Bezug auf den Roman „1984“ von George Orwell zeichnet Glöckler ein Menetekel an die Wand: Totalüberwachung werde geprobt bis hin zur Ausgangssperre, Überwachung via Handy – Grundrechte abgeschafft. Glöckler stellt die Lage in Deutschland so dar, als ob ein totalitärer Staat bereits existiere. Die „impfkritische“ Haltung der Anthroposophie geht zurück auf Rudolf Steiners okkulten Karma-Gedanken.

Steiner spricht von einer Bestrafung für „angerichtete“ Vergehen durch das „Gericht“ der Krankheit – im Grunde victim blaming, Opferbeschuldigung. Anthroposophie sucht die Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft rückgängig zu machen. Alles hängt mit allem zusammen und ist vorherbestimmt. Die geistigen Grundlagen der Anthroposophie beruhen nicht auf den Prinzipien der Aufklärung, der Kritik und Selbstkritik, der offenen Gesellschaft, sondern auf Offenbarungen und ewigen Ordnungen.

Bruno Heidlberger, Berlin

Ja! Gegen Neobraun

Danke für den Artikel. So viele WählerInnen und PolitikerInnen der Grünen schicken ihre Kinder auf diese Schulen. Ich hatte schon immer den Eindruck, dass das grüne Milieu zu Verschwörungsideologien eine eher ungute Nähe aufweist. Also weitere Aufklärung gegen Neobraun & Waldorf. Shalom! Ren Gupta, Schwerin

Deutlich zu tendenziös?

Liebe taz, diese Berichterstattung ist mir deutlich zu tendenziös! Es werden sämtliche Anthroposophen und Waldorfschulen als Corona-Skeptiker und gefährliche Querdenker dargestellt. Dass der Bund der Freien Waldorfschulen sich klar für die Coronamaßnahmen und gegen Verschwörungstheorien einsetzt, geht in der Art und Weise der Formulierungen unter. Meine Tochter geht zur Waldorfschule in Dortmund, dort herrschen genau die­selben Regeln wie an anderen staatlichen Schulen, teilweise sogar in verschärfter Form. Und es wird klar kommuniziert, dass es keine Alternative gibt, auch wenn natürlich nicht alle mit allen Maßnahmen glücklich sind. Es bleibt so viel auf der Strecke, darüber darf man traurig sein und gleichzeitig trotzdem mittragen, dass es im Moment nicht anders geht.

Malinda Griesinger, Dortmund

Freiräume – gefährlich?

Seit wann stellen Prinzipien kollektiver Führung und Freiräume eine Gefahr dar? Nach meiner Kenntnis suchen gerade progressive Ansätze nach kollektiven Umgangsformen. Ich wünschte mir eine differenziertere Betrachtung, die nicht einseitig die Anthroposophie insgesamt verurteilt. Es wäre aufschlussreich, zu reflektieren, warum Werte der Anthroposophie sowohl in der etablierten Gesellschaft wie offenbar auch in Teilen der Linken, als eine Gefahr wahrgenommen werden. Welche Qualitäten bringen diese Werte in das gemeinschaftliche Leben ein, die das bestehende „System“ verändern würden? Osman Yoncaova, Kassel