berliner szenen: Tag X: U-Bahn gefahren?
Ich führe seit fast einem Monat das erste Cluster-Tagebuch meines Lebens. Ich denke mein Leben in einem neuen Format und halte jeden Tag fest, ob, wann wie viele Menschen um mich waren. Tag X: U-Bahn gefahren? Eintrag 1. Dann gemeinschaftlich gespeist? Eintrag 2. Schließlich noch eine Freundin getroffen? Eintrag 3. Dieses Dokumentieren sortiert mich völlig neu, denn es schiebt Gedanken und Emotionen zur Seite und stellt Namen und Zahlen in den Vordergrund. Für meine Person perfekt: Cluster-Tagebuch zu schreiben befriedigt eine immer schon gerne zählende Kontrolllust, den Wunsch, sich in Zeiten der Pandemie verantwortungsvoll zu verhalten, sowie eine Freude an der stetigen, aber nicht zu aufwendigen Aufarbeitung des eigenen Erlebens.
Ein weiterer Vorteil beflügelt mich. Frühere Einträge in Tagebücher waren lang, nicht auf den Punkt, emotional, hirnschwurbelig poetisch, wiederholend, voll fragendem Zweifel, banal, selbstverliebt wie ein betrunkenes Gespräch. Kurz: das Schreiben war aufregend und wichtig, aber das Lesen war zäh. Das neue Format: Daten. Namen. Fertig. Fast. Auf den ersten Blick eine rein numerische Beschäftigung – auf den zweiten lässt die kurze Form jedoch Platz für eine fantastische, perfektionierte Vergangenheit: Was mag das für ein Treffen gewesen sein an Tag X?
Ich kann mir vorstellen, dass wir durch das Herbstlaub schlenderten und wilde Tiere in merkwürdigen Sprachen uns Gutes wünschten. Was haben L. und ich an Tag Y zusammen im Büro getan? Gute Gespräche bei köstlichem Kuchen, dazu Schnaps. Kater? Fehlanzeige. Arbeit? Ne. Und an Tag Z, habe ich da wirklich keinen Menschen getroffen? Nun, ich muss glücklich gewesen sein auf meiner einsamen Reise im Universum. Ein Cluster-Tagebuch liest sich ratzfatz und ist besser als jeder Text.
Lisa Häfner
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