„Ich schäme mich für das Klischee“

KINDHEIT Wer in Marzahn aufwächst, muss mit den Vorurteilen über den Stadtteil klarkommen. Unsere Autorin stammt zudem aus einer vietnamesischen Familie – und hat mit Klischees gleich doppelt zu tun

Das Misslichste daran, in Marzahn zu leben, ist allein der Fakt, in Marzahn zu leben. Sofern ich in anderen Teilen Deutschlands nur erzähle, dass ich in Berlin aufgewachsen bin, erscheine ich ziemlich cool. Fällt jedoch das Wort „Marzahn“, weiten sich die Augen. Dafür schäme ich mich. Nicht unbedingt für die Tatsache, dass dies der Ort war, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Sondern für die Klischees, die mit dem Namen verbunden sind.

Seit meiner Geburt – das sind schon immerhin 17 Jahre – wohnt meine Familie in Marzahn. Zweimal sind wir umgezogen, den Kiez haben wir nie verlassen. Für den Schulweg war das praktischer. Praktisch ist aber selten schön.

Wir wohnten zunächst in einem der vielen Plattenbauten mit achtzehn Etagen. Die Nachbarn grüßte ich immer freundlich, mehr sprachen wir nicht. Vielleicht lag es daran, dass meine Familie vietnamesisch ist. Ich hatte aber auch nicht das Gefühl, dass man einander im Haus kannte. Jeder war für sich allein.

In Marzahn leben vergleichsweise wenige Ausländer. Vereinzelt Russen und Vietnamesen, darunter auch wir. Mit deutschen Familien waren wir kaum befreundet. Das ist auch heute nicht anders.

In der Schule hatte ich viele Freunde. Klassensprecherin war ich auch. Probleme, weil ich ausländisch war, gab es anfangs nicht. Später fanden einige es unheimlich lustig, mir im Vorbeigehen Dinge wie „Ching, Chang, Chong“ zuzurufen. Dann wurde mir auch das Wort „Fidschi“ sehr geläufig. Einige Male sagten sie mir, ich solle dahin zurückgehen, wo ich herkomme. Ein Mistvieh nannten sie mich auch.

Meinen Eltern erzählte ich von den Beschimpfungen nichts. Mein Vater wäre sicher der Ansicht gewesen, dass jeder von ihnen Prügel verdient hätte. Wäre er an meiner Stelle gewesen, hätte er zumindest zurückgeschimpft. Denn mein Vater ist der Meinung, dass man sich wehren muss. Ich aber hatte sie ignoriert, ich hatte so getan, als würde ich sie nicht verstehen. Denn ich glaubte auch nicht, dass die Kinder, die mich beschimpften, wussten, was sie sagten oder weshalb sie es taten. In der Hoffnung, sie würden verstummen, schwieg ich selbst.

Marzahn aber auf solche Erfahrungen zu reduzieren wäre falsch. Ich ging gern zur Schule. Das Lernen fiel mir leicht. Ich spreche sehr gut Deutsch, die Lehrer hatten mich gern. Freunde hatte ich auch, oft kamen sie aus sozial schwachen Familien. Für mich machte das keinen Unterschied.

In der zweiten Klasse sah ich zwei meiner Mitschülerinnen hinter dem Schulhortgebäude rauchen. Sie sammelten angefangene Zigarettenstummel vom Boden auf. Einige Tage später entdeckte sie auch eine Erzieherin. Die Polizei kam, Eltern wurden geladen. Solche Erlebnisse machten Marzahn für mich aber nicht zu einem traurigen Ort. Vielmehr bin ich froh, nicht ganz so behütet aufgewachsen zu sein wie manch anderer.

Meine Eltern hatten wenig Zeit für mich und meine Schwestern. Sie arbeiteten meist bis um neun Uhr abends. Wir waren auf uns allein gestellt, sowohl in Sachen Schule als auch im Haushalt. Meine große Schwester und ich gingen beide nach der vierten Klasse auf ein Gymnasium. Damals war ich traurig, dass ich meine Grundschule verließ. Die alte Schule habe ich trotzdem nie wieder besucht, auch meine Freunde traf ich nicht wieder.

An der neuen Schule gab es viele Vietnamesen. Ich hatte immer mehr deutsche Freunde. Andere Vietnamesen blieben unter sich. Wahrscheinlich weil sie einander besser verstanden. Nicht wegen der Sprache: Für Deutsche ist es häufig schwierig, zu begreifen, warum vietnamesische Mitschüler oft so eingeschränkt in ihrer Freizeit sind. So zumindest das Klischee.

Es gibt hier eine vietnamesische Community. Meine Familie gehört nicht unbedingt dazu. Dennoch haben meine Eltern viele vietnamesische Freunde. Ich selbst bin kein Freund davon, sich aufgrund seiner Herkunft in Gruppen zusammenzuschließen und sich damit allein auf eine Ethnie zu reduzieren. Kultur ist ein wichtiger Wert, aber ich finde die Vielfalt an Kulturen noch viel interessanter.

Wenn man mich fragt, ob ich mich als deutsch oder als vietnamesisch bezeichnen würde, weiß ich keine Antwort. Ich denke auch nicht, dass ich eine brauche. Vielleicht bin ich auch Marzahnerin oder Berlinerin. Aber was ist das schon? Höchstens eine neue Abstempelung, eine Etikettierung, die mich mit weiteren Vorurteilen belastet. Und das brauche ich nicht.

PHUONG DUYEN TRAN