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Behörde hält Abstandvon eigenen Versprechen

Zugesagte Standards unterlaufen: Der Konflikt um die Geflüchteten-Erstaufnahme in der Bremer Lindenstraße hält an. Flüchtlingsrat erhebt schwere Vorwürfe gegen Sozialressort

Von Reimar Paul

Beinahe genau ein halbes Jahr ist es her: Am 8. Mai versuchte ein Bewohner der Bremer Erstaufnahmestelle Lindenstraße, sich das Leben zu nehmen. Milad G. begründete seinen Schritt mit den hygienischen und beengten Verhältnissen in der Einrichtung – und den Umgang mit Corona-Infizierten. Vier Wochen lang hatte der aus dem Iran geflüchtete G. dort unter Quarantäne gestanden, auf einem Flur zusammen mit „50, 60 Leuten, die anscheinend Corona haben – und nur einer Sanitäranlage, die nur einmal am Tag geputzt“ werde: So hieß es in einem Bericht Milad G.s, den der Bremer Flüchtlingsrat übersetzen und verbreiten ließ. Und weiter: „Die Polizei kam und ging, sie kamen in unser Zimmer und taten, als wären wir die Mafia oder irgendwelche Verbrecher.“

Der Umgang der Bremer Landesregierung – und insbesondere von Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) und ihrer Behörde – mit der Erstaufnahmestelle Lindenstraße bewegt schon länger viele Gemüter. Immer wieder, auch in der taz, beklagten Flüchtlinge die Bedingungen: Zeitweise waren bis zu 170 Bewohner*innen der Lindenstraße mit dem Coronavirus infiziert. Im April 2020 betraf laut Flüchtlingsrat mehr als ein Drittel aller dortigen Corona-Infektionen die Bewohner*innen eines einzigen Gebäudes. Gemeinsam mit Unterstützer*innen demonstrierten Geflüchtete mehrfach dagegen, dass das Sozialressort sie nicht so gegen eine Infektion schütze wie alle anderen Bremer*innen.

Ende April schrieb die rot-rot-grüne Koalition in der Coronaverordnung fest, dass es auch Geflüchteten in den Unterkünften des Landes ermöglicht werden müsse, Abstand voneinander zu halten. Die Belegung der Erstaufnahme Lindenstraße wurde auf höchstens 250 Personen festgelegt. Senatorin Stahmann versprach weitere Verbesserungen.

Nach Angaben des Flüchtlingsrates werden zugesagte und festgelegte Standards aber nicht eingehalten und teilweise sogar unterlaufen. So seien in der Lindenstraße zurzeit mindestens 309 Personen untergebracht, auch die Außenstelle in der Alfred-Faust-Straße sei trotz dort bereits festgestellter Corona-Infektionen überbelegt. Weiterhin müssten Menschen in der Erstaufnahme in „Kabinen“ wohnen, die baulich nicht voneinander abgegrenzt seien. Bewohner*innen hätten berichtet, dass entgegen der Darstellung der Sozialbehörde das WLAN nicht für alle und nicht überall erreichbar sei. Fenster könnten demnach weiterhin nicht geöffnet werden, es gebe also keine durch die Bewohner*innen selbständig regelbare Fischluftzufuhr.

„Es ist absehbar, dass es unter den bestehenden Bedingungen erneut zu einer großen Anzahl an Erkrankungen und zu pauschalen Quarantänen in Unterkünften für Geflüchtete kommen wird oder bereits kommt“, sagt Gundula Oerter vom Bremer Flüchtlingsrat. Die Sozialbehörde stelle sehenden Auges genau die Situation wieder her, die im April zu einer Infektionsrate von 37 Prozent geführt hatte. Massenunterkünfte seien aber auch jenseits der Pandemie eine fortdauernde Verletzung der Würde der dort lebenden Menschen, so Oerter: „Sie müssen geschlossen werden.“

Die Angaben des Flüchtlingsrates träfen zwar zu, müssten aber relativiert werden, sagt der Sprecher der Sozialsenatorin, Bernd Schneider. Tatsächlich lebten in der Lindenstraße derzeit rund 300 Menschen, also mehr als die vereinbarten 250. Zu dieser Überschreitung komme es, „weil bei aktuell gestiegenen Zugangszahlen die Vermittlung in eigenen Wohnraum oder eine Übergangseinrichtung nicht im von uns angestrebten Tempo gelingt“.

Bundesweites Problem

Der Konflikt in Bremen ist nur eine Facette eines größeren Bildes.

Mindestens 2.000 Menschen sind seit Anfang des Jahres in Aufnahmeeinrichtungen der Bundesländer an Covid-19 erkrankt. Das meldete Ende vergangener Woche der Mediendienst Integration.

Die Gesamtzahl der Infizierten könnte sogar noch deutlich höher liegen. Brandenburg etwa konnte gar keine Zahlen nennen. Nordrhein-Westfalen und Hamburg bezifferten nur, wie viele Menschen in den Unterkünften aktuell infiziert sind, nicht die Gesamtzahl der Infektionen seit Ausbruch der Pandemie.

In Aufnahmeeinrichtungen leben derzeit bundesweit etwa 53.000 Menschen; im Frühjahr waren es noch rund 60.000.

Bei der Vorgabe von 250 Bewohnern handele es sich um eine politische Vereinbarung, so Schneider weiter. Die Einrichtung sei nicht überbelegt – und die erforderlichen Abstands- und Hygienemaßnahmen seien in der Einrichtung, die für 750 Personen zugelassen ist, sogar bei 440 Bewohner*innen einzuhalten.

Dass in einem der drei Flügel des Gebäudes die Zimmer als nicht vollständig getrennte Kabinen eingerichtet seien, bestätigt Schneider der taz: „Das heißt, mit einer gemeinsamen durchgehenden Decke.“ Der Umbau dieses Flügels sei zugesichert. Voraussetzung sei aber, dass die Belegung absehbar für eine längere Bauphase auch deutlich unter die Zahl von 250 gesenkt werden könne. Das aber sei „angesichts der derzeitigen Zugänge und der Pandemielage derzeit leider nicht möglich“.

Auch die nicht zu öffnenden Fenster räumt der Behördensprecher ein. Aber: „Die Erstaufnahmeeinrichtung ist mit einer leistungsfähigen Heizungs- und Lüftungsanlage ausgestattet, die das Haus permanent mit temperierter Frischluft von außen versorgt.“ Mit Fenstern, die geöffnet werden könnten, müsste diese Anlage außer Betrieb genommen und durch eine Radiatorenheizung ersetzt werden. „Es würde dann in den Zimmern von den Bewohnerinnen und Bewohnern abhängen, ob es zu einem der Pandemie-Lage angemessenen Luftaustausch kommt“, sagt Schneider. „Die Lüftungsanlage stellt das automatisch sicher.“

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