: Der Holobiont tanzt
Isabel Lewis lässt in ihrer Ausstellung in der Kunsthalle Zürich ihr Publikum Teil eines Gesamtorganismus werden – wenn nicht gerade Corona dazwischenfunkt
Von Beate Scheder
Am Tag des Besuchs in der Kunsthalle Zürich meldet der Kanton 230 Corona-Neuinfektionen, der 7-Tage-Inzidenz-Wert steigt auf 97,5. Es ist Dienstag, seit etwa drei Wochen schnellen die Zahlen in der Schweiz wieder in die Höhe. Die Zürcher*innen tragen es mit Fassung. Vor der Filiale von Louis Vuitton auf der Bahnhofstraße warten die Hartgesottenen weiterhin in der Schlange auf Einlass.
Unerwartet ruhig ist es indes in der Kunsthalle. Seit Ende September läuft dort „Scalable Skeletal Escalator“, eine Einzelausstellung der Künstlerin Isabel Lewis, konzipiert als Dauerperformance. Eigentlich. An jenem Dienstag ist kein*e Tänzer*in in Sicht. Der Grund: Eine*r von ihnen habe Symptome, heißt es. Als Vorsichtsmaßnahme wurde die Performance unterbrochen. In zwei Tagen solle es voraussichtlich wieder weitergehen, abhängig von Testergebnissen und Quarantänezeiten. Fraglos die richtige Reaktion, Pech allerdings für die Besucherin von auswärts. Kunst 2020, Performance in Zeiten von Corona. Es bleibt kompliziert.
Isabel Lewis, geboren in der Dominikanischen Republik, begann ihre Karriere im zeitgenössischen Tanz in New York, seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Berlin. Bekannt geworden ist sie dort wie international mit ihren „Occasions“. Dabei handelt es sich um Arrangements aus verschiedenen Elementen, zwischen denen sich ihr Publikum frei bewegen kann, angesiedelt irgendwo zwischen Performance, Ritual und sozialem Event. Schaut man sich heute, im Herbst 2020, Videoaufzeichnungen davon an, stimmen sie einen merkwürdig wehmütig. Was Lewis darin adressiert, was sie da kondensiert und den Besucher*innen in der Rolle der Gastgeberin serviert, ist eben genau das, was man gerade so vermisst und wohl noch lange fehlen wird. Bei Lewis geht es stets um physische Nähe, um das Zusammenkommen, Zusammensein, Zusammendenken, um soziale Ökosysteme, um Gemeinschaft, auch, aber nicht nur im körperlichen Sinne. Überhaupt die Sinne: Lewis’ Kunst ist längst nicht nur visuell, oft gibt es etwas zu essen und zu trinken, Duft spielt eine Rolle, Sound sowieso, andererseits auch Kulturkritik, Text und Theorie. Lewis’ Occasions wollen Geist und Körper samt Nase, Zunge, Augen und Ohren gleichermaßen anregen.
Für die Zürcher Ausstellung musste sie ihre Praxis selbstverständlich anpassen, Leere und Abstand integrieren. Die Kunsthalle fordert dazu auf, mehrfach zu kommen, ein Ticket gilt für zwei Besuche, nicht nur, weil die Performance stets ein wenig anders aussieht, sondern auch die Installation.
Zentral für die Schau, so verrät der Saaltext, sei die Idee des Holobionts, wie sie die US-amerikanische Evolutionsbiologin Lynn Margulis (1938–2011) prägte. Zu verstehen ist darunter ein Gesamtorganismus, der sich aus symbiotisch miteinander lebenden Arten zusammensetzt. Holos = ganz, Bios = Leben. Der Mensch samt seiner koexistierenden Mikroben wäre ein Beispiel dafür.
Und ein solcher Holobiont will auch die Ausstellung sein. Lewis hat entsprechend eine ganze Reihe Kolleg*innen an Bord geholt: Da sind die Performer*innen, unter anderem aus dem Zürcher Kollektiv The Field, die ihn tanzen lassen, die Designer*innen Marcelo Alcaide und Yolanda Zobel, von denen die Kostüme stammen.
Dirk Bell hat aus altem Plastik Objekte gefertigt, von denen es im Laufe der Zeit immer mehr zu sehen geben wird – im Keller hat sich der Künstler ein laborartiges Studio eingerichtet, zu besuchen immer dann, wenn er da ist und dort arbeitet. Gemeinsam mit Mo Stern hat Bell außerdem die imposante Soundanlage im dritten Stock gebaut. Für die daraus zu hörende algorithmische Komposition ist wiederum das Duo LABOUR verantwortlich, für die Siebdruckarbeiten, die drumherum hängen, Matthew Lutz-Kinoy, für den süßlichen Geruch sich zersetzender Materialien, der durch die Stockwerke zieht, Sissel Tolaas.
Alles steht irgendwie miteinander in Beziehung. Ohne die Performer*innen scheinen aber die entscheidenden Puzzleteile zu fehlen. Im großen Raum im zweiten Stock stehen Sofas und Sessel zwischen Trennwänden aus verblichener Plastikfolie und einem langen Spiegel. Alles auf Rollen, wie bestellt und nicht abgeholt. Was für ein Bild für die Stimmung dieser Tage.
Eine Ahnung des Verpassten gibt der Instagram-Kanal der Kunsthalle. Kurze Videos zeigen die Performer*innen in Aktion, wie sie sich im Rhythmus des Sounds um das Publikum herumwinden, wie sie die von der Decke hängenden Leinwände kreisen lassen, aus den in der Ausstellung ausliegenden ökofeministischen Texten lesen, geräuschvoll mit Plastikplanen knistern. Die Tänzer*innen wirken quasi als Vermittler*innen zwischen den einzelnen Lebensformen des Holobionts.
Wirklich transportieren können das auch die socialmedia-tauglichen Videohappen nicht, sie untergliedern den Gesamtorganismus eher wieder in Einzelteile. Schade, zu schade. Alle, die eine Möglichkeit haben, ihm komplett zu begegnen, mögen das bitte tun.
Bis 8. November, Kunsthalle, Zürich
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