DIE UNION ENTDECKT DIE SCHATTENSEITEN DES ERFOLGES : Kein Schlafwagen zur Macht
Inzwischen schaut Angela Merkel wieder ernst. Das zarte Lächeln ist verflogen, das die CDU-Chefin vor Wochen noch zur Schau trug. Jetzt, wo Schwarz-Gelb in einigen Umfragen unter die 50-Prozent-Marke gerutscht ist, muss die Union erkennen: Mit dem Schlafwagenbillett allein, das ihr der Bundeskanzler am 22. Mai zum Geschenk machte, kommt sie nicht zur Macht. Der bequeme Nachtzug hat sein Ziel erreicht, auf dem Rest der Wegstrecke muss die Opposition eigene Mühen auf sich nehmen.
Es wäre auch zu kurios gewesen: Aus Verdruss über die angeblich zu rigiden SPD-Sozialreformen entscheidet sich das Wahlvolk lieber für just die Partei, die noch viel schärfere Einschnitte befürwortet. Das funktionierte bei den Landtagswahlen, solange es auf der Linken keine wählbare Alternative zu den Sozialdemokraten gab. Jetzt aber bietet sich mit der Linkspartei ein Forum, den Protest gegen die jetzige Regierung auch von der linken Seite zu artikulieren.
Die Selbstaufgabe von Rot-Grün hat die Union und auch die FDP dazu verleitet, über die eigenen Schwächen allzu leicht hinwegzusehen. Die kopflose Debatte der vergangenen Woche um einen Sonderwahlkampf für Ostdeutschland zeigt, wie unverhofft nun das Erwachen kommt. Kaum eines der Defizite, die noch 2002 den sicher geglaubten Wahlerfolg verhinderten, ist seither behoben. Personell ist die Union auf Bundesebene arg ausgedünnt, programmatisch changiert sie zwischen Marktradikalismus und Sozialpopulismus, in Ostdeutschland ist sie trotz der Spitzenkandidatin aus Templin noch immer nicht wirklich verankert.
Das alles wird Merkel die Kanzlerschaft nicht kosten, dazu ist Rot-Grün zu tief gefallen. Es wird ebendiese Kanzlerschaft aber weit schwieriger machen, als die meisten Christdemokraten bislang dachten. Entweder weil sich Merkel die Macht in der großen Koalition mit einer kopflosen Sozialdemokratie teilen muss. Oder weil sie all die Defizite und Widersprüche in der eigenen Partei nach dem 18. September erst einmal überbrücken muss. Das Lächeln wird so schnell nicht wiederkehren.
RALPH BOLLMANN