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Hannover feuert mit Leidenschaft

Wegen Verlusten drängen Hannover und Niedersachsen die Deutsche Messe, Stellen zu streichen. Rund ein Drittel der Mitarbeiter sollen gehen – und erfahren davon aus der Zeitung

Von Nadine Conti

Die Deutsche Messe AG (DMAG) mit Sitz in Hannover soll bis 2027 ein Drittel ihrer aktuell 760 Stellen einsparen. Das sieht jedenfalls ein neuer Sanierungsplan vor, den die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) im Auftrag des Vorstandes erstellt hat. Er wurde am Freitag dem Präsidialausschuss des Aufsichtsrates vorgestellt – und seine Kernpunkte landeten prompt am nächsten Tag in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.

Darüber schäumen nun Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften: „Es ist stillos, respektlos und übrigens auch geschäftsschädigend, dass Beschäftigte, der Betriebsrat, die IG Metall und Aufsichtsratsmitglieder aus der Zeitung erfahren, dass 290 Beschäftigte – mehr als 1/3 der Belegschaft – angeblich wegrationalisiert werden sollen“, empört sich Dirk Schulze, Erster Bevollmächtigter der IG Metall und selbst Mitglied des Aufsichtsrates. Auch sei der Wirtschaftsausschuss der DMAG nicht informiert worden, wie es eigentlich gesetzlich vorgesehen ist – und das bei einer Gesellschaft, die je zur Hälfte von der Stadt Hannover und vom Land Niedersachsen gehalten wird.

Das Verhängnis hatte sich schon länger angekündigt. Zuletzt schlug die Messe vor einem Monat Alarm – durch die Corona-Ausfälle laufe man auf Verluste von 85 Millionen Euro zu, der akute Finanzbedarf allein für die kommenden Monate belaufe sich auf 100 Millionen Euro. Mit weiteren Verlusten sei zu rechnen, erst 2022 rechne man mit einer Erholung des Geschäfts.

Im Juni hatte das Unternehmen schon einmal einen Überbrückungskredit von der Nord LB in Höhe von 50 Millionen Euro in Anspruch genommen, die Mitarbeiter befinden sich seit April in Kurzarbeit.

Trotzdem hat man in den vergangenen Monaten viel daran gesetzt, zu retten, was zu retten ist. So wurde an virtuellen und Hybridlösungen getüftelt, die Halle 18 technisch aufgerüstet zur „multifunktionalen Eventlocation H‘up“ – aus der von fünf verschiedenen Bühnen in alle Welt gesendet werden kann.

In der Branche wird dieser technische Ehrgeiz mit großer Aufmerksamkeit beobachtet – aber die damit zu erzielenden Erlöse bleiben weit hinter dem zurück, was mit realen Messen umgesetzt wird.

Und vor allem für die Stadt Hannover gehen dabei die Mitnahmeeffekte flöten, die immer ein zentrales Argument für den Erhalt und Betrieb des riesigen Messegeländes waren: die Umsätze, die die Messe in die Kassen von Hotels, Gaststätten und Geschäften spülte, und die Beschäftigungseffekte in der gesamten Region.

„Es ist stillos, respektlos und übrigens auch geschäfts-schädigend“

Dirk Schulze, IG Metall Bevollmächtigter

Unterschiedlich sind die Einschätzungen, wie düster die Zukunft der Deutschen Messe tatsächlich aussieht. Die IG Metall verweist darauf, dass das Unternehmen vor Corona endlich wieder schwarze Zahlen geschrieben hatte – und argwöhnt, dass die Krise hier auch benutzt wird, um die starke Arbeitnehmervertretung anzugehen.

Allerdings ist unklar, in welchem Umfang sich das Inlandsgeschäft überhaupt erholen kann: In einer Umfrage des Ifo-Instituts bekundeten 39 Prozent der deutschen Industriefirmen, ihre Messeauftritte auch nach Corona geringer halten zu wollen.

Der Vorstand der Messe AG hat nun Gespräche mit dem Betriebsrat angekündigt. Eigentlich gibt es nämlich eine geltende Betriebsvereinbarung, die den Erhalt von mindestens 701 Stellen bis August 2024 vorschreibt und betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Dafür arbeiten die Beschäftigten jede Woche zwei Stunden unentgeltlich länger als nach Flächentarifvertrag vorgesehen.

Bürgermeister Belit Onay (Grüne) appellierte an die Beteiligten, „die anstehenden, schwierigen Gespräche zur Zukunft der Messe in Ruhe und Sachlichkeit zu führen“.

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