: „Multikulturalismus nimmt den Platz des Klassendiskurses ein“
INTERVIEW London, „Brutstätte und Multiplikator des Deregulierung“, könnte Ausgangspunkt für eine neue Linke sein, hofft Stadtforscherin Doreen Massey
■ war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Geografie an der Open University. Geboren 1944 in Manchester, gilt sie als Grande Dame der kritisch-materialistischen Geografie, die sich mit den räumlichen Dimensionen sozialer Ungleichheit befasst und marxistische mit feministischen Ansätzen verknüpft. 2007 erschien ihr London-Buch „World City“.
INTERVIEW OLIVER POHLISCH
taz: Frau Massey, welches Image von London präsentieren die Olympischen Spiele?
Doreen Massey: London als wohlhabende, boomende und kulturell vielfältige Stadt.
So falsch ist das doch nicht.
Natürlich ist da was Wahres dran. London ist eine der paradigmatischen Global Cities. Und die besondere Rolle Londons ist die eines Finanzzentrums, die das ganze Land dominiert.
Profitieren Londoner davon?
London ist zur Stadt mit den größten sozialen Ungleichheiten innerhalb des Landes geworden. Die Dominanz der Finanzwelt macht es kleineren Unternehmen fast unmöglich. Eines der Merkmale von Londons Wirtschaft war immer ihr Mix aus vielen kleinen Industrien, und deren Aussterben ist ein Ergebnis der Finanzaktivitäten und des Immobiliensektors.
In Ihrem Buch „World City“ erklären Sie, dass diese Entwicklungen ihre Wurzeln in den 1980er Jahren haben – als die Sozialdemokratie in die Krise geriet.
Während der 80er Jahre war ich wie eine Menge anderer Linker im Greater London Council (GLC) unter Ken Livingstone involviert. Wir wollten ein Alternativmodell zum sozialdemokratischen Etatismus. Die treibenden Kräfte waren außerparlamentarisch. Wir versuchten, die Politik, Ökonomie und Kultur der Stadt neu zu denken; stärker von unten und breiter gefächert, mit Anerkennung von Differenz. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen unseren Ideen von damals und dem, was heute bei Occupy diskutiert wird.
Warum sollten vergangene Kämpfe in London eine Relevanz besitzen?
London, vielleicht noch mehr als New York, ist Brutstätte und Multiplikator der Ökonomie und Ideologie der Deregulierung, Privatisierung und des „allwissenden Marktes“. Wir bemerken ja nicht einmal mehr, dass wir so denken: den Markt nicht beeinträchtigen, Individualismus, Wettbewerbsfähigkeit. Unglücklicherweise fällt diese Entwicklung mit dem Aufstieg des Multikulturalismus zusammen.
Was ist denn am Multikulturalismus zu beklagen?
Multikulturalismus hat in vielerlei Hinsicht den Platz des Klassendiskurses eingenommen. Multikulturalismus wird oft genug auch von der Linken als etwas gesehen, über das man leicht reden kann, weil es für das eigene Leben keinen großen Unterschied macht. Und Klasse wird als etwas Gestriges abgetan. Die urbane Linke, die wir jetzt haben, fokussiert stark auf Migration. Oft wird die einheimische Arbeiterklasse ignoriert. Und die ist weiß, aber eben auch nicht nur. Keine Klasse ist vermischter.
Und der Rassismus, auch in der Arbeiterklasse?
Wir können den Menschen nicht immer nur ihre Positionen vorwerfen. Wir sagen oft bloß: Oh, die sind rassistisch. Warum, verstehen wir nicht. Daher sind wir unfähig, mit ihnen zu reden.
Während der Finanzkrise 2007/08 sah es aber so aus, als geriete der Neoliberalismus ins Wanken.
Ganz am Anfang gab es einen Moment, als jeder dachte: Hey, die Menschen stellen Gier und Individualismus infrage. Und dann verschwand dieser Moment wieder.
Wie sollte die Politik einer neuen Linken aussehen?
Gerade dreht sich eine Menge um das Recht auf Stadt und um urbane Kämpfe. So wie mich die Überfokussierung auf Multikulturalismus besorgt, beunruhigt mich auch die übermäßige Konzentration auf Städte. Es ist eine Form von Selbstobsession. Immer nehmen wir das Wort „urban“ in den Mund. Warum? Warum nicht „Gesellschaft“?