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berliner szenenAuf Holunder-Jagd

Ich fahre im Wedding die Panke entlang auf Holunderjagd. Der August war zu heiß, viele Beeren sind vertrocknet, bevor sie reif waren. Aber ein paar gibt es, und die will ich. Jahrelang wurde ich beim Ernten angesprochen, oft von Menschen mit Migrationshintergrund, die diese Beeren nicht kannten. Dieses Jahr fragt keiner. Aber ich merke schon länger, dass etwas anders ist. Oder bin ich nur selbst aufmerksamer?

Im Juni hatte es begonnen. Am Zaun eines Mietergartens pflückte ein Junge Blätter in eine Plastiktüte. Was der da wohl sammelte? Aber spricht man 13-Jährige an? Ich traute mich nicht. Am nächsten Tag sah ich, dass dort eine Weinrebe wuchs. Eine Woche später an der Pizzeria Osloer Straße: Eine Frau mit Kopftuch stand unter der Pergola und sammelte Blätter in eine Tüte. Da machte es „klick“ in meinem Kopf: Weinblätter! Na klar! Türkischstämmige Weddinger pflücken Weinblätter so wie ich Holunder. Denn beides gibt es nicht im Laden.

Das fällt mir jetzt bei der Holunderernte wieder ein. Und da sehe ich diesen Mann. Älter als ich, mit einer kleinen Tüte in der Hand, hinter dem Holunderstrauch. Aber er sammelt keine schwarzen Beeren wie ich, sondern etwas anderes. „Entschuldigung, was pflücken Sie da?“, frage ich neugierig, so wie ich das früher auch immer gefragt wurde. Er lächelt freundlich und streckt mir eine Hand mit kleinen roten Früchten entgegen. „Weiß nicht, wie auf Deutsch heißt, nur auf Türkisch“, sagt er. „Gegen hohe Blutdruck. Und macht das Herz ruhig.“ Spannend! Er lässt mich eine der Früchte probieren. Sie hat einen kleinen Kern und schmeckt süß. Beim Weiterfahren ärgere ich mich – hätte ich doch nach dem türkischen Wort gefragt! Die Internetrecherche ergibt: Es sind Kornelkirschen. Morgen schaue ich, ob noch welche da sind. Und nächstes Jahr mache ich gefüllte Weinblätter.

Gaby Coldewey

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