: Gleichmäßig an der Musik vorbei
Der Rundfunkchor Berlin hat der Coronamisere trotzig ein experimentelles Großprojekt entgegengesetzt: auf pandemiekonformem Konzertparcours durch die Neuköllner „Katakomben“ SchwuZ und Vollgutlager
Von Katharina Granzin
Im Herbst seines nur mittellangen Lebens schrieb Beethoven sein bedeutendstes Chor-Vokalwerk, die „Missa solemnis“, die in diesem, seinem 250. Geburtsjahr, noch viel öfter zu hören gewesen wäre, hätte kein Virus dazwischengefunkt. Chorkonzerte sind gerade wirklich nicht leicht zu realisieren. In dieser Lage hat der Rundfunkchor Berlin, schon seit Jahren ganz weit vorn, wenn es um innovative Konzertformate geht, mit „The World to Come“ eine wagemutige, enorm aufwendige Produktion in Szene gesetzt, die nun dreimal in Berlin erlebt werden konnte. Ihr weiteres Schicksal ist unklar und von der Weltgesundheitslage abhängig.
Aus dem lateinischen Text „Et vitam venturi saeculi“ der großen Chorfuge aus dem Credo der Messe ist das zeitgeistigere „The World to Come“ geworden: Wie kann sie aussehen, die Welt von morgen, was wird die Rolle der Musik sein, und was können wir aus unterschiedlichen Traditionen mitnehmen?
Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester haben sich dafür zahlreiche andere TonkünstlerInnen mit ins Boot geholt, allen voran die Komponistin Birke J. Bertelsmeier, die mit eigenen Kompositionen auf Beethoven reagiert und für den Abend eine Gesamtpartitur erstellt hat; außerdem den iranischstämmigen Perkussionisten Mohammad Reza Mortazavi, die genderfluide Musikproduzent*in Planningtorock sowie die US-amerikanischen Künstler*innen Moor Mother und Colin Self. Für die Inszenierung wurde der Regisseur Tilman Hecker verpflichtet.
Für ein riesiges Ensemble braucht man noch riesigere Räume. Das Vollgutlager in Neukölln sowie das SchwuZ, das seit 2013 in den angrenzenden „Katakomben“ beheimatet (und nun schon seit März geschlossen) ist, bieten der außergewöhnlichen Veranstaltung zahlreiche Bühnen, denn das Ganze läuft als Konzertparcours ab. Das Publikum werde gebeten, hatte es vorab geheißen, ein „gleichmäßiges Tempo“ einzuhalten und den „Aufforderungen des Servicepersonals nachzukommen“.
Überall auf dem Boden finden sich gelbe Markierungen im Abstand von etwa eineinhalb Metern. Hier dürfte man also stehen bleiben, wenn man denn irgendwo stehen bleiben dürfte, wo es sich lohnt. Aber wer das versucht, wird vom Servicepersonal so höflich wie hartnäckig weiterdirigiert. Keine Gelegenheit also, beim Eintritt in den großen Saal des Vollgutlagers von oben in Gijs Leenaars’ Partitur zu schauen, und auch nicht, zwischen Chor und Orchester länger zu verweilen und sich nachhaltig von allen Seiten beschallen zu lassen.
Erst wenn es irgendwo zum Stau mit Abstand kommt, wie in den Gängen des SchwuZ vor der Videoinstallation von Moor Mother („Wash me in the blood of my enemies!“), stellen sich eher zufällig längere Musikmomente ein. Da sitzt in einer Nische neben der geschlossenen Bar des Clubs der Organist Jakub Sawicki und spielt, während auf der Tanzfläche ein Frauenchor auf Publikum wartet. „Heaven. Heaven. Heaven“, säuseln die Soprane, und die Alti kontern mit „Hell. Hell. Hell“. Hier in der Mitte des Parcours ist David-Lynch-Land: Schummrige Nachtclub-Beleuchtung deutet dunklere Schichten des Bewusstseins an; und in allen Ecken Menschen in stylischen Klamotten, die Musik machen.
Die Bezüge zu Beethoven sind insgesamt eher lose oder erschließen sich ohne Erklärung gar nicht. Da man nicht selbst entscheiden kann, wie lange man wo stehen bleibt, stellt sich auch kein echtes Konzertgefühl ein. Denn wenn „gleichmäßiges Gehen“ die zu kontrollierende Hauptaufgabe ist, wird die Musik zur bloßen Begleitung dieses Vorgangs abgewertet. Ganz am Schluss allerdings führt der Parcours nach draußen, wo in der Garage des Vollgutlagers Mohammad Reza Mortazavi ein fulminantes (leider zu kurzes) Solo auf der Daf gibt und danach die Sopranistin Iwona Sobotka sehr lange neben den RSO-Streichern auf ihren Einsatz warten muss.
Hier auf dem Hof kann man zwar endlich ungestört stehen, hören und gucken. Da es inzwischen aber immer nachdrücklicher nieselt, macht ein großer Teil des Publikums bereits vor Konzertende von der Möglichkeit Gebrauch, einfach schon mal nach Hause zu gehen. In selbst gewähltem Tempo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen