: Die Kunst des Ränkespiels
1473 überfiel ein Kapitän der deutschen Hanse ein Florentiner Schiff. In der Beute befand sich ein kostbares Altarbild des Künstlers Hans Memling. Ein politisches Tauziehen um das Gemälde begann
Von Christian Semler
Erstveröffentlichung in: Mare Nr. 93/ August/September 2012
Am 14. April 1473 traf die „Peter von Danzig“, ein Kriegsschiff der deutschen Hanse unter dem Danziger Kapitän Paul Beneke, in englischem Gewässer auf zwei Galeeren, die Handelsschiffe „San Giorgio“ und „San Matteo“. Beide gehörten dem Florentiner Eigner Tommaso Portinari, einem Kaufmann aus dem flandrischen Brügge. Von dort waren sie aufgebrochen, ihr erstes Ziel war Southampton. Paul Beneke, „ein hart Sevogel“, zögerte keinen Augenblick, die beiden Handelsschiffe anzugreifen, um sie zu kapern und ihre Ladung zu erbeuten.
Der Kampf war ungleich und nur von kurzer Dauer. Denn die „Peter von Danzig“, auch als „Dat grote Kraweel“ bekannt, war das größte und am besten ausgerüstete Kriegsschiff in den nördlichen Gewässern. Der Schiffsrumpf war glatt und aus nebeneinander sitzenden statt sich überlappenden Planken gebaut. Diese neue, aus den Werften des Mittelmeers stammende Konstruktion verlieh dem Schiff größere Manövrierfähigkeit. „Dat grote Kraweel“ war ein Dreimaster mit 750 Quadratmeter Segelfläche, mit Dutzenden Geschützen und befestigten Armbrüsten. Sie konnte bis zu 400 Mann Besatzung und Kriegsvolk aufnehmen.
Der „San Giorgio“ gelang es, der übermächtigen „Grote Kraweel“ zu entwischen, aber die „San Matteo“ wurde geentert. Einige Mitglieder der florentinischen Besatzung ertranken, andere wurden verletzt. Eine erste Musterung brachte reiche Prise zum Vorschein, etwa 300 Pfund wert, eine ungeheure Summe. Neben wertvollen Gewändern, Spezereien und dem begehrten Salz Alaun entdeckte die Besatzung zwei Altarbilder, zusammen rund 100 Pfund wert.
Eines davon, ein „Jüngstes Gericht“, erregte seiner Farbenprächtigkeit und seiner eindrucksvollen Komposition wegen die Bewunderung der Piraten. Ein Teil der Besatzung dachte daran, nicht nach Danzig zurückzukehren, um nicht teilen zu müssen. Aber Paul Beneke segelte das Schiff sicher in den Heimathafen. Bald wurde klar, dass es sich bei dem Bild um ein Meisterwerk der flämischen Schule handelte. Heute wissen wir, es ist die erste große Komposition des noch jugendlichen Meisters Hans Memling, von dem später noch zu reden sein wird.
Die „Peter von Danzig“ war urspünglich ein französischer Salztransporter gewesen, der die begehrte Ware nach Danzig gebracht hatte. Der Eigner konnte eine fällige Reparatur nicht bezahlen, verpfändete sein Schiff und starb, ohne das Pfand einzulösen. Das Schiff wurde als Kriegsschiff instand gesetzt und der Stadt Danzig von drei Handelsherren abgekauft. Einem von ihnen, Reinhold Niederhoff, fiel das „Jüngste Gericht“ als Prisenanteil zu. Er stiftete es der Georgskapelle in der Danziger Marienkirche, die der Bruderschaft der Danziger Kaufleute zugehörig war.
Freilich war die Kaperaktion Paul Benekes kein Privatunternehmen gewesen, sondern Bestandteil eines bewaffneten Konflikts der Hanse mit England. Der englische König Edward IV. hatte nach und nach die Privilegien der Hanse und deren „Stalhof“ in London beschnitten und schließlich auch die Verhaftung der hanseatischen Kaufleute in London angeordnet. Später sah sich auch in Brügge der „Kaufmann der Hanse“ (so die Kollektivbezeichnung) zunehmender Bedrohung seiner Privilegien ausgesetzt, insbesondere zum Stapelzwang, also der Zwang, die Fracht im Hafen auszuladen und zum Zweck des Vorkaufsrechts oder zur Verzollung am Ufer zu stapeln. Im letzteren Fall genügte das Auftauchen der „Grote Kraweel“ zur Einschüchterung. Aber in London gab Edward IV. den Forderungen der Hanse nicht nach, obwohl Ratgeber den Konflikt für die englischen Interessen als schädlich ansahen. Schließlich erklärte die Hanse in ihrem „wendischen“ (bremisch-hamburgisch-lübischen) und ihrem preußisch-livländischen Viertel (wozu Danzig zählte) 1469 England den Krieg.
Man darf sich den Kriegsverlauf nicht als eine Folge von Seeschlachten vorstellen. Der Streit wurde vielmehr von beiden Seiten als Kaperkrieg geführt, weshalb Kapitän Beneke auch mit einem Kaperbrief ausgestattet war, der die Aufbringung für das Feindesland bestimmter Waren legitimierte. Das wechselseitige Kapern wurde durch ökonomische Maßnahmen ergänzt, dem Boykott englischen Tuches auf dem Kontinent etwa. Dieser Sperre schlossen sich andere Monarchen an, auch Polens König, der Souverän über das „Preußen königlichen Anteils“ war, dem Danzig zugehörte. Bei Kriegen wie diesem ging es ausschließlich um die Bewahrung der Hanseprivilegien, nicht um politische Konfrontation. Daher wundert es nicht, dass die Hanse mitten im Krieg Edward IV. ein Geleit aus Schiffen zur Verfügung stellte, als dieser mit einer Streitmacht auf die Insel zurückkehrte, von der er von seinem Rivalen Heinrich VI. Lancaster vertrieben worden war. Diese Hilfsdienste hinderten den König nicht daran, nach der Wiederbesteigung des Thrones mit der hansefeindlichen Politik fortzufahren.
Trotz Kaperbriefs hatte das erfolgreiche Piratenstück Paul Benekes einen Haken. Seine Beute, die „San Matteo“, war unter burgundischer Fahne gefahren, und Burgund hatte sich im Krieg der Hanse mit England für neutral erklärt. Zudem sollen Benekes Leute diese Fahne heruntergeholt und mit Füßen getreten haben. Die Verletzung der burgundischen Neutralität und die Schändung der Fahne erregten den Zorn Herzog Karls des Kühnen von Burgund, einem der mächtigsten Kriegsherrn des späten Mittelalters. Er forderte die Rückgabe der Prise an den Florentiner Eigner Tommaso Portinari und eine Entschuldigung. Der Fall wurde zum Gegenstand der Friedensgespräche zwischen England und der Hanse, die 1474 mit dem Friedensschluss endeten - freilich ohne dass Portinaris Ansprüche berücksichtigt worden wären, dafür war das Interesse Karls des Kühnen an einer funktionsfähigen Hanse zu groß.
Portinari erwirkte wenigstens einen Arrest hansischen Eigentums in Brügge, der allerdings nie vollstreckt wurde. Es gelang ihm auch, sich der Hilfe Papst Sixtus‘ VI. zu versichern. Der Papst ermahnte Paul Beneke zur Rückgabe der Beute, anderenfalls habe er mit dem Kirchenbann zu rechnen. Das beeindruckte in Danzig niemanden. Aus den in Niederdeutsch verfassten Hanserezessen erfahren wir, wie geschickt die Abwehr der Hanse war. Sie betonte, dass es sich bei dem Kaper um eine Angelegenheit Danzigs handele, für die die Hanse als Städtebündnis nicht in Anspruch genommen werden könne. Die Danziger wiederum verwiesen darauf, dass der Krieg von der Hanse erklärt und sie deshalb die Alleinverantwortliche sei. So ging die Verschleppungsaktion Jahr um Jahr munter weiter.
Dabei hatte Portinari am burgundischen Hof ausgesprochen gute Karten. Er war Ratsherr und Vertrauter des burgundischen Herrschers, eine Position, die er dem großzügigen Darlehen an Karl den Kühnen verdankte. Dessen Rückzahlung allerdings war mehr als unsicher. Portinari entstammte einer alten Bankiersfamilie. Schon sein Vater hatte in den Diensten der Brügger Filiale des florentinischen Bankhauses Medici gestanden, und Tommaso trat in seine Fußstapfen. Er war ein fähiger, stets zu waghalsigen Finanzoperationen bereiter Banker mit starken politischen Ambitionen, die allerdings von seinem Chef, Cosimo di Medici, misstrauisch beäugt wurden. Das war auch der Grund, warum nicht er Chef der Brügger Filiale wurde, sondern Angelo Tani, ebenfalls aus einer angesehenen Familie stammend und anders als Portinari ein gewissenhafter, vor finanziellen Abenteuern zurückschreckender Geist. Portinari wie Tani waren beide Connaisseure der altniederländischen Malerei, die seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen unglaublichen Aufschwung erfahren hatte.
Damit standen sie jedoch nicht allein. Die italienische Kaufmannschaft in Flandern war fasziniert von den Tapisserien, den kostbaren Gewändern, vor allem aber von der Malerei flandrisch-burgundischer Meister wie Jan van Eyck, die heute unter dem irreführenden Namen „flämische Primitive“ bekannt sind. Die Nachfrage nach Werken der niederländischen Künstler wuchs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unaufhörlich. Porträts, Andachtsbilder, großformatige Werke fanden ihren Weg an die südeuropäischen Höfe und Paläste. Davon profitierten auch die italienischen Händler in Flandern.
Natürlich war für die italienischen Handelsleute der Besitz eines Bildes der flandrischen Meister ein Statussymbol. Es steigerte das Prestige und war Medium der Selbstdarstellung. Als Unikat verkörperte es einen hohen Wert. Aber die italienischen Kaufleute prahlten nicht nur mit ihren Gemäldeschätzen, sie identifizierten sich auch mit ihnen. Der penible Naturalismus dieser Porträts, auf denen keine Hautpore vergessen wurde, sprach den kaufmännischen Wirklichkeitssinn ebenso an wie die Prachtentfaltung, die raffinierten Spiegelungen und optischen Tricks der Gemälde. Und manche dieser Kaufleute mag auch die innerliche Frömmigkeit beeindruckt haben, die bei aller Finesse dennoch in den Werken der Niederländer zum Ausdruck kam.
Hans Memling, der Urheber des geraubten „Jüngsten Gerichts“, zählte zu den Größten unter ihnen. Der um 1430 in Seligenstadt bei Frankfurt geborene Bürgersohn wurde wohl in Mainz oder Köln ausgebildet und arbeitete darauf bei Rogier van der Weyden, dem international erfolgreichen Meister aus Brüssel. 1465 ließ er sich in Brügge nieder und ermalte sich nicht nur in Italien den hervorragenden Ruf als Schöpfer zarter Bilder voller tiefer Empfindung. 1494 starb der Wegbereiter des Renaissancebildes in Brügge.
Das Triptychon, das Angelo Tani 1467 bei dem jungen Hans Memling in Auftrag gegeben hatte, entsprach genau den Bedürfnissen der italienischen Banker in Brügge. Christus der Weltenrichter thront in der oberen Hälfte des Mittelteils auf einem Regenbogen, unter ihm der Erzengel Michael, der die Waage hält, auf der Verdienste und Sünden der auferstandenen Toten gewogen werden. In seiner Rüstung spiegelt sich die Szenerie; der Sturz der Verdammten in die Hölle ist geschickt in perspektivischer Verkürzung dargestellt. Die Stifter selbst, das Ehepaar Tani, sehen wir in frommer Haltung an den Außenseiten des Triptychons in Grisaille, als Malerei in Grautönen, dargestellt. Wie konnte es kommen, dass dieses offensichtlich den Tanis gehörende Werk von Portinari als Eigentum betrachtet und via England an seine italienische Adresse verschickt werden sollte?
Angelo Tani war Portinaris Intrigen zum Opfer gefallen und nach Italien zurückgekehrt, während Portinari die Leitung der Brügger Filiale der Medici-Bank übernahm. Die Vermutung liegt nahe, dass er das Gemälde schlicht unterschlagen hat. Dafür spricht ein Umstand, den der große Kunsthistoriker Aby Warburg entdeckte. In der Waagschale, die sich zu Boden neigt, kniet ein nackter Mann und betet. Er hat es geschafft und darf sich in die Schar der Seligen einreihen, die langweilig und geschlechtslos der Paradiespforte zustrebt. Memling interpretiert die Seelenwaage, gemäß dem Satz „Gewogen und zu leicht (oder zu schwer) befunden“. Wer zu sehr gesündigt hat, dessen Schale geht nach oben, wessen Bilanz positiv ist, dessen Schale geht nach unten.
Bei dem in der Waagschale knieenden Mann handelt es sich, wie Warburg herausfand, um Tommaso Portinari. Sein Porträt wurde nachträglich auf ein Metallplättchen gemalt und von Memling geschickt eingefügt. Nach der Meinung einiger Kenner sieht man unter den Auferstandenen auch eine Reihe weiterer Kollegen, die Tani und Portinari in Brügge beschäftigten.
Zwar handelt es sich bei der Einfügung solcher Plättchen um eine auf Wunsch der Auftraggeber häufiger geübte Praxis bei den flandrischen Meistern. Auch Tani hätte der Einfügung Portinaris zugestimmt haben können, um die kollegialen Umgangsformen, eben den „familiären“ Charakter des Bankhauses Medici, zu unterstreichen. Aber Portinaris Verleumdungen gegen Tani und die Umstände von dessen Absetzung sprechen für die Unterschlagung des Triptychons und die spätere Einfügung des Porträts auf Weisung Portinaris. Dummerweise ist der Kopf Portinaris in der Seelenwaage nicht mehr das Original Memlings, sondern das Werk eines Restaurators aus dem 19. Jahrhundert. Wir müssen der Versicherung des Restaurators vertrauen, er habe das Porträtplättchen genau nach dem Original gearbeitet.
Nach jahrzehntelangem Streit wurden schließlich Portinaris Kinder um des lieben Friedens willen von der Stadt Brügge entschädigt, die mit dem Kaper nun wirklich nichts zu tun gehabt hatte. Kapitän Paul Beneke starb hoch verehrt in Danzig. Bis heute sind die nunmehr in Deutschland lebenden früheren Danziger Bürger bemüht, sein Andenken auch gegenüber der populäreren Gestalt des Piraten Klaus Störtebeker hochzuhalten. „Dat grote Kraweel“ erlitt schon 1478 Schiffbruch und musste abgewrackt werden. Was aber geschah mit dem Objekt von Portinaris Begierde, mit dem „Jüngsten Gericht“?
Lange Zeit stand es still und unbeachtet in der Georgskapelle, woran sich auch nichts änderte, als im Gefolge der polnischen Teilungen Danzig an die preußische Krone fiel. Mit der Ruhe war es vorbei, als nach dem Sieg Napoleons über die preußischen Armeen französische Truppen Danzig einnahmen. Ein kunstsinniger Offizier beschlagnahmte das „Jüngste Gericht“. Es wurde im Rahmen eines ganz Europa umspannenden Kunstraubzugs nach Paris gebracht, um dort dem neuen Musée Napoléon einverleibt zu werden. Als nach Napoleons Niederlage die Alliierten Paris besetzten, weigerte sich der Direktor des Museums zuerst standhaft, das „Jüngste Gericht“ herauszugeben, kapitulierte aber angesichts einer Abteilung von Ziethener Husaren.
Memlings Altarbild kehrte an den gewohnten Platz in der Danziger Marienkirche zurück und war wie vordem wegen der schlechten Lichtverhältnisse kaum zu sehen, was der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt anlässlich eines Besuchs übel vermerkte.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde das mit der kurzzeitig freien Stadt Danzig „heim ins Reich“ gekehrte „Jüngste Gericht“ an einem bombensicheren Ort ausgelagert, anschließend von der Sowjetarmee beschlagnahmt und der Leningrader Eremitage übergeben. Dort blieb es bis 1958 und wurde dann an Danzig zurückgegeben. Sein Aufenthalt bleibt bis heute das Muzeum Narodowe w Warszawie, wo es, allseitig angestrahlt, funkelnder Edelstein der Sammlung ist.
Dieser Standort empört allerdings das Danziger Episkopat. Es sieht die „Verstaatlichung“ des Gemäldes als Diebstahl seitens der ehemals kommunistischen Staatsmacht an und fordert die Rückgabe an die Marienkirche, die rechtmäßige Eigentümerin. Ob die Kirchenmänner diesen Anspruch mit der gleichen Verve vertreten würden, wenn sie sich über die ursprüngliche Herkunft des „Jüngsten Gerichts“ Rechenschaft ablegten?
Der Berliner Historiker Christian Semler, Jahrgang 1938, war in den 1960er Jahren Mitglied im Sozialistischen Studentenbund und einer maoistischen Organisation. Später unterstützte er die Solidarnosc und andere demokratische Bewegungen Osteuropas. Seit der Wende arbeitet er bei der „tageszeitung“, zuerst als Redakteur, heute als Autor.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des mareVerlags.