berliner szenen
: Was sich mit der Zeit so ansammelt

Gestern. Ein großes Berliner Krankenhaus. Rettungsstelle. Es ist Samstagnacht. Ich bin Ärztin. Das ist so etwas Ähnliches wie Arzt. Mein Kollege hat heute seinen letzten Tag. Es ist ein denkwürdiger Abschied. In den letzten beiden Stunden kommen 20 Patienten. Alle unter 30 und auf Drogen. „Was haben die genommen?“, flüstert mein Kollege. „Keine Ahnung“, sage ich, „frag lieber mal den Typen, wo er seine Schuhe herhat. Die sehen aus wie deine.“ – „Das sind meine!“ – „Sorry, aber Ihre Umkleide stand offen“, sagt der junge Mann, „und auf meinen Schuhen klebt Erbrochenes.“ Wider Willen muss ich lachen. Mein Kollege nicht.

„Was haben Sie genommen?“ Der junge Mann leert seine Taschen. Lauter bunte Pillen fallen auf den Boden. „Ecstasy, Speed, Tilidin, Ketamin, etwas Koks. Was sich halt mit der Zeit so ansammelt.“ – „Sie ziehen jetzt sofort meine Schuhe aus, und dann gehen Sie nach Hause.“ – „Liegt es an den Drogen, dass mir ein wenig schwindelig ist?“ Mein Kollege zeigt wortlos mit dem Finger auf die Tür. „Schon gut, muss man hier erst einen Herzinfarkt haben, um behandelt zu werden?“ – „Ja“, sage ich, „das ist grob gesagt die Idee einer Notaufnahme.“ Der junge Mann sammelt beleidigt seine Pillen ein. „Was sich halt mit der Zeit so ansammelt“, grummelt mein Kollege, „die ticken doch nicht ganz richtig.“

In der Umkleide treffen wir uns wieder. Mein Kollege leert gerade seine Taschen. Ertappt zuckt er zusammen. Auf dem Tisch liegen Ibuprofen, Novalgin, ein Antibiotikum, Diazepam, die Pille danach, eine halbvolle Spritze mit Morphin und eine Schere, beschriftet mit „Schwester Petra“. Ich grinse. „Das Morphin war für den Patienten mit dem Herzinfarkt!“ – „Und die Schere, beschriftet mit ‚Schwester Petra‘?“ – „Was sich halt mit der Zeit so ansammelt“, grinst er zurück. Eva Mirasol