: Schröders Erben
GRÜNE Die Parteispitze will die Wähler der „Neuen Mitte“ umwerben. Die Idee dahinter: Wenn die SPD jetzt nach links auf die Linkspartei zurutscht, müssen die Grünen die Wähler von Gerhard Schröder beerben. Kann das ohne Widersprüche klappen?
RENATE KÜNAST
VON ULRIKE WINKELMANN
Vom vielen Vorbeugen und Umarmen war Jürgen Trittins Frisur ganz derangiert. So viele neue und alte grüne Abgeordnete hatte der Grünen-Spitzenkandidat schon begrüßt, dass die lange Strähne auf seinem Kopf zerfasert und weit nach vorn baumelte. Zur ersten Sitzung der neuen Bundestagsfraktion trafen sich die Grünen am Dienstag unter großem Hallo in einem der großen Säle des Reichstags.
Wahlkampfchefin Steffi Lemke schleppte schon wieder Blumensträuße durch die Gegend. Einer davon war für Trittin, der mit Co-Spitzenkandidatin Renate Künast am vergangenen Sonntag sensationelle 10,7 Prozent der Wählerstimmen eingefahren hat – und schon kommenden Dienstag mit dem Fraktionsvorsitz belohnt werden soll. Der bisherige Chef Fritz Kuhn kündigte gestern an, dass er sich künftig mit dem Vizeposten begnüge.
Da sitzen sie nun, die Grünen, mit dem besten Bundestagswahlergebnis aller Zeiten – und doch wieder als kleinste Fraktion. Was bleibt ihnen übrig, als erneut eine Premiumopposition anzukündigen? „Wir streben die Meinungsführerschaft in der Opposition an“, sagt Renate Künast trotzig – ein Plan, der schon in den vergangenen vier Jahren bestenfalls teilweise aufging.
Das lag auch daran, dass nach 2005 die neue Linkspartei ebenso wie die sich für Regierungsaufgaben rüstende FDP mehr Aufmerksamkeit bekamen als die Grünen. Nun, da die Grünen sich auf den Oppositionsbänken mit der SPD treffen, droht ihnen ein ganz ähnliches Schicksal. Politische Dynamik wird zwischen SPD und Linken vermutet – nicht bei den Grünen. Dort werden nur die weitgehend selben Leute weiter behaupten, doch die Vernünftigsten von allen zu sein.
Zum Vernunftimage gehört bei Künast, dass sie als Erstes schon einmal der Rede vom „linken Lager“ widerspricht. Ein solches Lager werde über „den kleinsten gemeinsamen Nenner“ definiert, behauptet sie. Sie spreche lieber vom Oppositionslager, in dem es im übrigen „keine Harmoniesauce“ geben werde.
Parteichef Cem Özdemir berichtet stolz von seinem Ergebnis im Rennen um ein Stuttgarter Direktmandat. Er unterlag zwar, aber: „30 Prozent kriegt man nur, wenn man in allen Lagern fischt – und nicht nur im linken Lager.“
Die Idee dahinter ist deutlich: Die Grünen wollen Schröders Erbe antreten. Künast und Özdemir wollen die Wähler der „neuen Mitte“ einsammeln, die zuletzt Gerhard Schröder gewann und die spätestens jetzt von einer nach links rutschenden SPD abfallen werden. „Linke Mitte, aber vorne“, heißt Künasts Kursbestimmung, die sie gern mit Gesten unterstützt – um das „vorne“ zu illustrieren.
Denn auch die nicht so linken Grünen erkennen, dass die gegenwärtig wahrscheinlichste Möglichkeit, Schwarz-Gelb im Jahr 2013 wieder zu entmachten, in einem linken, also rot-rot-grünen Bündnis besteht. Dazu aber braucht dieses Lager wieder eine Mehrheit. Die wird nur zu erringen sein, wenn SPD und Grüne nicht immer um dieselben WählerInnen kämpfen.
Bedauernd breitet etwa Jürgen Trittin aus, dass bei der Wahl am Sonntag die Grünen „nicht die erdrutschartigen Verluste der SPD ausgleichen konnten“, da zwei Millionen SPD-WählerInnen zu Hause geblieben seien. Trittin unterschlägt dabei, dass die Grünen fast ihren gesamten Stimmenzuwachs der SPD verdanken: Über 700.000 Wähler wanderten dieses Mal von der SPD zu den Grünen. Von der Union bekamen sie dagegen kaum 70.000 Stimmen. Dort, gab Özdemir schon früh im Wahlkampf aus, sei mehr zu holen.
Das gibt Ärger. So sehr die linken Grünen das Ziel teilen, unterm rot-rot-grünen Vorzeichen auf die Bundestagswahlen 2013 zuzusteuern – über das Wie dürfte ab sofort gestritten werden.
„Wir haben das beste Wahlergebnis aller Zeiten ja wohl mit einem dezidiert linken Programm gewonnen“, ruft der Parteirats-Junggrüne Arvid Bell. Es könne nun nicht darum gehen, „irgendwelche sogenannten Leistungsträger aus dem bürgerlichen Spektrum herauszubrechen“. Vielmehr „müssen wir mit einer politischen Vision auf der Linken die Zuhausebleiber wieder mobilisieren“. Stimmenzuwachs gern – „aber eine diffuse ökoliberale Volkspartei mit 30 Prozent, die braucht keiner“.
Auch die neue, 67-köpfige Bundestagsfraktion, in der die Linken einige Verstärkung bekommen haben, wird sich vom „Neue linke Mitte“-Kurs Künasts erst noch überzeugen lassen müssen. Frithjof Schmidt, Ex-NRW-Landeschef und bis vor wenigen Monaten noch EU-Parlamentarier, sagt: „Aus den Programmen, die wir in den vergangenen vier Jahren beschlossen haben, ergibt sich unsere Haltung zur sozialen Frage.“
An dieser Front sind die Grünen längst weit nach links gerückt. Sollte sich die SPD nun zum Beispiel wieder von der Rente mit 67 verabschieden – den Grünen dürfte es schwerfallen, eine nach Schröder klingende Antwort darauf zu formulieren.
Bleibt die grüne Kernkompetenz: Umwelt und Energie. Die erste Chance, auch jenseits des ungern links genannten Lagers zu punkten, sehen Künast und Co nun in Kampfansagen an die Energiekonzerne. „Wir werden nicht zusehen, wie sich der Atomfilz in diesem Land wieder mit Schwarz-Gelb verbindet“, sagt Künast. Und ergänzt: „Im Gegensatz zu SPD und Linkspartei ist die Atomenergie ein spezifisch grünes Thema.“ Da kann ihr kein Linksgrüner widersprechen – vorläufig.