Die Teamspielerin

Mehr Frauen, mehr Diskurs, mehr Offenheit: Karin Becker, neue Intendantin am Theater Konstanz, hat trotz Corona große Pläne. Ende September beginnt ihre erste Spielzeit – der erste Schritt in den Fußstapfen des weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Enfant terribles Christoph Nix.

Die Frau nach Nix: Karin Becker. Foto: Theater Konstanz, Ilja Mess

Von Michael Lünstroth↓

Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nicht. Für Karin Becker kam ein solcher Moment an einem Abend im Juli 2018. Sie war gerade vom Konstanzer Gemeinderat zur neuen Intendantin des Theater Konstanz gewählt worden. Nach der offiziellen Wahl und den ersten Glückwünschen fand sie sich plötzlich alleine in der für sie noch fremden Stadt wieder. „Ich habe mich über die Wahl wahnsinnig gefreut. Aber es war nach der großen Freude auch ein bisschen seltsam, in dieser für mich damals noch unvertrauten Stadt alleine zu stehen und zu wissen, das wird jetzt meine Heimat“, erinnert sich Becker.

Zwei Jahre ist das jetzt her und nun, am 26. September 2020, eröffnet sie ihre erste Spielzeit am Theater Konstanz. Was für ein Theater können die Menschen in der Region von ihr erwarten? „Mir ist wichtig, dass wir das Haus öffnen. Die Menschen sollen aber nicht nur zu unseren Vorstellungen kommen, einen Sekt in der Pause trinken und dann sieht man sich in vier Wochen wieder zur nächsten Pre­miere. Wir wollen diskursiver, integrativer, offener werden“, erklärt die 52-Jährige ihr Theaterverständnis im Gespräch.

Das komplizierte Erbe des Christoph Nix

Karin Becker tritt in die Fußstapfen von Christoph Nix. Der leitete das Theater Konstanz 14 Jahre lang auf seine ganz eigene Weise. Nimmt man Zuschauerzahlen und Schlagzeilendichte zum Maßstab, dann waren das außerordentlich erfolgreiche Jahre. Meistens kamen um die 100.000 ZuschauerInnen pro Spielzeit in die drei Spielstätten des Konstanzer Thea­ters. Auch überregional brachte Nix sein Haus immer mal wieder in die Medien. Nicht jede Aktion war glücklich, aber: Christoph Nix verstand es, sein Theater nach außen zu verkaufen.

Der Preis dafür war allerdings oft hoch: Innere Verwerfungen lähmten den Betrieb gelegentlich. Die Belegschaft war nicht immer glücklich mit den bisweilen sprunghaften Entscheidungen ihres Chefs. Und auch mit politischen Entscheidern in der Stadt gab es regelmäßig Streit. Mal aus nachvollziehbaren Gründen, mal eher unnötig. Nix hatte irgendwann in seiner Intendanz Gefallen daran gefunden, sein Theater als Ort der außerparlamentarischen Opposition zur Stadtpolitik zu verstehen. „Wenn es die anderen nicht machen, dann bleibt einem nichts anderes übrig! Einer muss den Job ja machen“, sagte er in einem Interview.

Nach der Wahl von Karin Becker gab es Befürchtungen in der Stadt, das Thea­ter könnte mit ihr, einer Frau, die nicht aus dem Regiefach, sondern aus der Thea­ter­verwaltung kommt, nun zu brav werden. Becker hat auf ihre Art darauf geantwortet. Mit einem Spielplan, der sich nicht davor scheut, kritische Fragen zu stellen und in die Auseinandersetzung zu gehen.

Das Theater als Ort respektvollen Streitens

Unter anderem ruft sie dafür die Gesprächsreihe „Lasst uns reinen Tisch machen“ ins Leben, in der BürgerInnen über aktuelle Themen streiten sollen. Das Ziel: Austausch fördern, Filter-Bubbles umgehen, miteinander sprechen, zuhören. „Dem anderen mit Respekt und Achtung begegnen, auch wenn er eine andere Meinung hat“, sagt die Intendantin. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Sprache. Gerade angesichts des verrohenden öffentlichen Diskurses: „Wir müssen wieder mehr darauf achten, welche Worte wir in welchem Kontext verwenden“, sagt Becker und meint, Theater könne zur Sensibilisierung beitragen.

Becker stammt aus Stuttgart, sie ist seit fast 30 Jahren im Theaterbetrieb. Angefangen hat sie bei der Württembergischen Landesbühne Esslingen, dem Jura Soyfer Theater in Wien und dem Theaterhaus Stuttgart, später arbeitete sie am Schauspiel des Staatstheaters Stuttgart als Produktionsleiterin und Disponentin. Zuletzt war sie künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater in Hamburg.

Karin Becker ist überzeugt davon, dass Theater sich einmischen muss in gesellschaftliche Debatten: „Ich bin absolut dafür, mutig zu sein. Es ist in unserer Zeit wichtiger denn je, den Mund aufzumachen gegen Entwicklungen, die einem Sorgen bereiten. Dinge, die gesagt werden müssen, müssen auch gesagt werden“, findet die Intendantin. Das merkt man auch ihrem Spielplan an. Das Eröffnungsstück ihrer Spielzeit ist „Jeder stirbt für sich allein“ nach dem Roman von Hans Fallada. Eine Geschichte über ein Ehepaar, das nach dem Tod ihres Sohnes im Krieg zu Gegnern des Nazi-Regimes wird. Und am Ende hingerichtet wird. Der Stoff geht zurück auf die wahre Geschichte des Berliner Arbeiterehepaars Otto und Elise Hampel.

Das gesamte Programm steht unter dem sehr offenen Spielzeit-Motto „Einmal Welt, bitte!“ Was darunter zu verstehen ist, erklärt Karin Becker so: „Wie gehen wir mit unserer Welt, den Ressourcen, der Umwelt um? Wie gehen wir miteinander um? Welche Werte vertreten wir? Wer ist eigentlich „wir“ und wer gehört dazu? Diese Fragen lassen sich auch weiterdenken und ins Utopische spinnen. Und das Theater versteht sich dabei als Sprachrohr der Gesellschaft.“ Ein Instrument dafür: das neue Stadtensemble. Menschen zwischen 16 und 99 aus der Region sollen hier ein halbes Jahr lang ein eigenes Stück auf der Grundlage von Ödön von Horváths „Hin und her“ entwickeln.

Frischer Wind am Bodensee

Auch sonst findet sich im neuen Spielplan vieles, das Lust macht auf Theater. Heinrich Bölls „Katharina Blum“, „Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“ von Edward Albee, „Farm der Tiere“ von ­George Orwell, die Oscar-Wilde-Komödie „Der ideale Mann“. Auch Elfriede Jelinek („Das Licht im Kasten“), Leo Tolstoi („Anna ­Karenina“) und William S. Burroughs („The Black Rider“) kommen auf die ­Bühne. Dazu noch spannende Stückentwicklungen wie der Stadt-Theaterrundgang „Generation Extinction“ oder „Nibelungenleader“, die aktuelle gesellschaftliche Debatten aufgreifen rund um Klimakrise, Gendergerechtigkeit und die Frage, wie wir heute miteinander leben wollen. Nach 14 Jahren unter Christoph Nix verspricht das neue Spielzeitheft frischen Wind. Aufbruch ist wieder spürbar am Bodensee.

Das hat auch mit dem neuen Geist im Leitungsteam des Stadttheaters zu tun. Denn: Karin Becker ist zwar die Intendantin, kommt aber mit einem Team. Viel mehr Frauen als bislang werden das Profil des Hauses prägen. Chefdramaturgin Doris Happl kommt aus Wien, die Dramaturginnen Romana Lautner, Hannah Stollmayer und Meike Sasse sind ebenso neu wie die künftige Hausregisseurin Franziska Autzen. Einziger Mann im Leitungsteam wird der neue Chef des Kinder- und Jugendtheaters, Kristo Šagor. Auf der Bühne wird sich das neue, weiblichere Bild des Theaters ebenfalls zeigen: Das 26-köpfige Schauspielensemble ist paritätisch zusammengesetzt. Und: Im März 2021 soll erstmals das Frauentheater-Festival „Let’s ally“ starten.

Ihre eigene Rolle in ihrem Leitungsteam sieht Karin Becker dabei vor allem als „Kunst-Ermöglicherin“. Die 52-Jährige wird in der ersten Spielzeit keine Regie-Arbeit übernehmen, sondern sich darauf konzentrieren, die richtigen Menschen zusammenzubringen. Damit unterscheidet sie sich fundamental von ihrem Vorgänger Christoph Nix. Der verstand seine Intendanz noch im Wesentlichen als One-Man-Show. Karin Becker setzt wohl lieber auf Kooperation als auf Konfrontation. Auf Vergleiche mit Nix will sie sich aber gar nicht erst einlassen: „Herr Nix hat hier 14 Jahre einen tollen Job gemacht. Aber es war seine Wegstrecke und wir müssen jetzt unseren eigenen Weg gehen“, sagt Becker.

Statt Videos: Vorstellungen auch vor nur 50 Leuten

Die größte Herausforderung für ihre erste Konstanzer Spielzeit hat sechs Buchstaben: Corona. Als Antwort auf die Frage, wie Theater in Zeiten der Pandemie möglich sein kann, gibt es ein umfangreiches Hygienekonzept. Dessen augenfälligste Konsequenz: Etliche Sitze wurden im großen Saal des Stadttheaters entfernt, um die geforderten Mindestabstände einhalten zu können. Statt 400 werden künftig maximal 97 ZuschauerInnen eingelassen. Auch in den beiden anderen Spielstätten, Spiegelhalle und Werkstatt, gibt es nun deutlich weniger Sitzplätze.

Für das Haus bedeutet das weniger Einnahmen und mehr Arbeit. Weil vor allem die Abo-Stücke häufiger gespielt werden müssen, um alle AbonnentInnen bedienen zu können. Der Aufwand, den die Pandemie von den Theaterleuten für den täglichen Betrieb abverlangt, ist immens. Requisite, Technik, Werkstätten – für alles gibt es so detaillierte Vorschriften, dass es auch aus dem Mund Karin Beckers erstaunlich klingt, dass in dieser Lage überhaupt irgendein Theater seine Türen öffnet. Wie lange das gut gehen kann, weiß derzeit niemand so recht. Bislang plant Becker mit diesem eingeschränkten Betrieb bis Ende des Jahres.

Was soll sie auch anderes tun? Das Thea­ter geschlossen zu lassen, sei für sie ebenso wenig eine Lösung wie verstärkt auf digitale Formate zu setzen. „Ganz ehrlich: Theater lebt davon, dass wir im direkten Austausch mit den ZuschauerInnen sind. Und deshalb spiele ich im Zweifel lieber vor 50 Zuschauern als mehr Video­formate zu produzieren“, sagt ­Becker. Damit wäre man dann wieder bei einer ihrer Charaktereigenschaft: Dinge tun, damit sie getan sind oder weil andere sie tun? Nicht ihr Ding. Sie will lieber eigene Konzepte entwickeln, von denen sie selbst überzeugt ist und mit denen sie dann andere überzeugen kann. Nicht der schlechteste Ansatz für den Beginn einer neuen Intendanz.

Ruhestand bleibt für den 65-jährigen Christoph Nix auch nach seinem Engagement in Konstanz ein Fremdwort. 2021 übernimmt er die künstlerische Leitung der Tiroler Volksschauspiele in Telfs.