: Demonstrantvon Beruf
Die Bösen waren die „Berufsdemonstranten“. Zumindest für Stefan Mappus, den Kurzzeit-MP, der die S-21-Gegner vor zehn Jahren so genannt hat. Einer von ihnen hat es sogar geschafft, staatlich anerkannt zu werden.
Von Josef-Otto Freudenreich↓
Was ist von Stefan Mappus geblieben? Die kürzeste Amtszeit eines Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, 15 Monate von Februar 2010 bis Mai 2011. Der EnBW-Deal vielleicht. Manche mögen sich noch an den milliardenschweren Rückkauf erinnern und den anschließenden Untersuchungsausschuss. Hat nix gebracht.
Im Gedächtnis bleibt auf jeden Fall der Bahnhof. Genauer gesagt, Mappus’ Interview in der Publikation „Focus“ am 25. September 2010, in dem er sagte, bei den Protesten gegen Stuttgart 21 seien „Berufsdemonstranten“ zugange, die der Polizei das Leben schwer machten und ihm den „Fehdehandschuh“ vor die Füße geworfen hätten. Fünf Tage später folgte der Schwarze Donnerstag, für den er sich nicht verantwortlich fühlte.
Fortan trugen die Gescholtenen entsprechende Plakate („Ich bin ein Berufsdemonstrant“) mit sich herum, die SPD warnte davor, die mehrheitlich braven Bürgerinnen und Bürger zu kriminalisieren, und Cem Özdemir unterstellte Mappus, er wolle Blut sehen, was der Grüne später zurücknahm, weil sich der Schwarze in seiner Ehre angegriffen fühlte. Allerdings änderte das auch nichts an dem Umstand, dass des Pforzheimers Stern rapide sank und in der Wahlnacht vom 27. März 2011 verglühte.
Ein Zeiss-Ingenieur wird zum Berufsdemonstranten
Über das Wesen des „Berufsdemonstranten“ ist danach nicht mehr wirklich diskutiert worden, sieht man von einem Statement seines Nachfolgers Winfried Kretschmann ab, der später meinte, sie seien früher als Ökospinner und Berufsdemonstranten verlacht worden. Und jetzt sei er MP. Das hätte niemand gedacht, zumindest er nicht.
Kretschmanns Weg mag nun ein singulärer gewesen sein, weil nicht jede und jeder den tätigen Protest soweit erlernen und ausüben konnte, um damit den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Aber der Definition nach müssten doch alle so Bezeichneten bestimmte Fertigkeiten haben wie Plakatemalen, Wegtragenlassen, Kastanienwerfen, um das Demonstrieren als Profession erscheinen zu lassen.
Alle diese Gedanken gingen auch Christoph Mezger durch den Kopf. Damals vor zehn Jahren. Auf den ersten Blick erstaunlich. Er schaffte bei Zeiss in Oberkochen, war diplomierter Ingenieur, hatte an der FH Esslingen studiert. „Alles völlig unspektakulär“, sagt er. Bis dahin hatte ihm niemand sein Engagement in einer Bürgerinitiative gegen das Restmüllheizwerk Böblingen vorgeworfen, oder Revoluzzertum beim Esslinger Carsharing-Verein, wo er ehrenamtlicher Vorstand war, auch nicht beim genossenschaftlichen Kino in Aalen, wo er Lichtbänder auf dem Fußboden verlegt. Allerdings fuhr er auffällig oft von Aalen nach Stuttgart. Immer wieder montags.
Demos sauber aufgelistet in Anlage N
Er tat es, weil ihm eine „umweltfreundliche Mobilität“ am Herzen liegt, welche er bei der Deutschen Bahn nicht gut aufgehoben sieht. Der heute 48-Jährige spricht weniger über Gleisneigungen, Bremswege oder die Signaltechnik ETCS. Mehr über das Cui Bono, über den Tunnelbohrer Herrenknecht und die Baulöwen, und darüber, dass die Bahn nur einmal funktioniert habe: in den Corona-Zeiten, in denen sie kaum Fahrgäste hatte. Kein Wunder, dass er montags häufig demonstrieren musste, gegen Stuttgart 21.
Und wenn er danach zurückkehren wollte, am doppelt belegten Gleis 16 stand und nicht wusste, ob der vordere oder der hintere Zug nach Aalen fuhr, dann wusste er warum. Auch technisch.
Mezger trägt einen K-21-Button am Revers. Hätte Mappus ihn gekannt, hätte er wahrscheinlich gesagt: Schaut her, das ist einer der „reisenden Berufsdemonstranten von außerhalb“. Darüber hat sich Mezger „maßlos“ aufgeregt, über diesen MP und seine „alternativen Fakten“. Über Monate hinweg habe er sich überlegt, erzählt er bei unserem Besuch auf der Ostalb, wie er die Verleumdungen des schwarzen Regierungschefs produktiv wenden könnte. Und da war sie, die Idee: die Einkommensteuererklärung 2010.
Der Klassifizierung Mappus’ folgend, hat sich der Aalener Ingenieur selbst zum Berufsdemonstranten gemacht und eine zweite Arbeitsstätte angegeben, wegen der damit verbundenen Reisetätigkeit. Ihre Adresse: „Stuttgart Hbf und Umgebung“. In einem sehr freundlichen Brief an das Finanzamt Aalen hat er auch geschrieben, warum er das tut. Nachdem er zunächst den Widerstand gegen Stuttgart 21 als seine „Berufung“ empfunden habe, notierte er am 22. März 2011, betrachte er sich nach den Äußerungen von MP Mappus „allerdings als Berufsdemonstrant“.
Aus diesem Grund erlaube er sich, die Entfernungspauschale für die Fahrten zu den Demonstrationen an seine zweite Arbeitsstätte in der Anlage N mitanzugeben. Die Daten hat er sauber aufgelistet, 80 Kilometer für einen Weg, als Werbungskosten geltend gemacht, und erstmals die Pauschalgrenze von damals 920 Euro überschritten. Um satte 46 Euro.
Und siehe da: Das Finanzamt hat die Werbungskosten akzeptiert, führt Mezger in der Rubrik „ausgeübter Beruf“ als Demonstrant, und seitdem erlaubt sich der Schalk von der Ostalb, den Titel „staatlich geprüfter Berufsdemonstrant“ zu führen.
Christoph Mezger hat sich mit seiner Geschichte unter der Adresse s21protestalbum@kontextwochenzeitung.de gemeldet. Um Nachahmung wird weiterhin gebeten – auch der Nützlichkeit wegen.
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