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Archiv-Artikel

Die Robbengrippe kommt

GESUNDHEIT Über 150 Meeressäuger sind womöglich aufgrund eines bisher unbekannten Influenzavirus verendet. Der Erreger könnte auch andere Säugetiere befallen

„Wir haben ein neues unter Säugetieren übertragbares Virus“

A. MOSCONA, CORNELL MEDICAL COLLEGE

VON PATRICK LOEWENSTEIN

BERLIN taz | Ein neuer Stamm von Grippeviren ist bei Hafenrobben an der US-amerikanischen Ostküste entdeckt worden. Das H3N8-Virus wird als potenziell gefährlich eingestuft, weil es auch andere Säugetier oder Menschen befallen könnte.

Bei der Autopsie von fünf im Jahr 2011 verendeten Robben hat ein Virologen-Team der Columbia University das Virus gefunden. Sie wiesen alle Symptome von Lungenentzündung auf. Die Wissenschaftler fanden auch Bakterien-Infektionen, an denen die Meeressäuger möglicherweise verendet sind.

Grippeviren bei Robben sind seit rund 30 Jahren bekannt, allerdings wurden bis jetzt ausschließlich originäre Vogelviren identifiziert. Das neue Virus ist mutiert und kann sich zwischen Säugetieren übertragen. Die im Journal der American Society for Microbiology veröffentlichte Analyse zeigt, dass die Viren eng mit einem Stamm verwandt sind, der seit 2002 bei Vögeln in Nordamerika beobachtet wurde. Deshalb wird angenommen, dass der Infektionsüberträger Vogelkot ist, mit dem Hafenrobben häufig in Berührung kommen. Ian Lipkin, der auch an der Entdeckung des Sars-Virus beteiligt war, ist beunruhigt. „Das Virus zirkulierte für einige Jahre unter Vögeln, aber eine Verbindung mit einem Massensterben war bisher nicht zu beobachten.“

Wenn das Virus mutiert, könne es sich je nach verfügbarem Wirt weiter anpassen und Infektionen hervorrufen – bei Vögeln und bei Säugetieren. Die Veränderungen im Genom machen das Auftreten schwerer Grippesymptome wahrscheinlicher. Ein weiterer Risikofaktor ist die Fähigkeit von H3N8, an ein Protein anzudocken, das auch im menschlichen Atemsystem vorkommt, erläutert Lipkin.

Auch die Herausgeberin des Artikels, Anne Moscona vom Cornell Medical College, macht sich Sorgen: „Wir haben ein neues unter Säugetieren übertragbares Virus, das bis jetzt nicht mit Menschen in Berührung gekommen ist.“ Thorsten Wolff vom Robert Koch-Institut (RKI) hingegen beruhigt: „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich das Virus ausbreitet und damit zu einer Gefahr für den Menschen werden kann.“ Robbenpopulationen seien zu klein für eine Ausbreitung des Virus.

Die Infektionsketten des Virus sorgen dafür, das sich der Erreger nicht auf andere Populationen ausbreitet: Unter den Robben wird eine akute Infektion ausgelöst. Junge Tiere sterben entweder daran oder werden immun. In beiden Fällen werde das Virus nicht aus der Population heraustransportiert, erläutert Wolff, Leiter des Fachgebiets „Influenza/Respiratorische Viren“ des RKI.

Derzeit liegen keine experimentellen Daten vor, dass das neue H3N8-Virus andere Säugetiere außer Robben infizieren könnte. Auch wenn die genetischen Analysen einen Hinweis geben, würde ein „direkter Bezug zu den Vogelgrippeviren eine dramatische Gefährdung suggerieren“, die so nicht haltbar sei, warnt Wolff vor Panikmache.

Derzeit werden Influenzaviren von Vögeln nur in Form des hoch ansteckenden Vogelgrippevirus H5N1 auf den Menschen übertragen. Das Virus hatte zwar Massentötungen von Geflügel zur Folge, die Statistik der Weltgesundheitsorganisation führt seit 2003 607 Erkrankungen und 358 Todesfälle auf. Zum Vergleich: Allein in Deutschland sterben bis zu 20.000 Menschen im Jahr an einer Grippeinfektion.