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: Sie trugen deutsche Uniformen

Vor dem U-Bahnhof Ruhleben sitzt ein Betrunkener und pöbelt: „Corona! Niemand kennt wen, der an Corona gestorben ist! Niemand!“ Am liebsten würde ich sagen: „Doch. Ich.“ Aber ich beiße mir auf die Lippen. Seit Wochen kommt mir immer, wenn ich am Neuen Ufer entlanggehe, das Bild in den Kopf, wie Eva Sternheim-Peters dort Ende des vergangenen Jahres nach einer Lesung auf der Brücke stand: erschöpft, aber glücklich. Die damals 94-Jährige hatte vor über 50 Schüler*innen meiner Schule aus ihrem Buch „Habe ich denn allein gejubelt? – Eine Jugend im Nationalsozialismus“ gelesen und anschließend Fragen beantwortet wie: „Was halten Sie davon, dass eine Politikerin im Bundestag ohne juristische Konsequenzen fordern kann, man müsse die Menschen an den europäischen Außengrenzen zur Not unter Anwendung von Gewalt fernhalten?“ Es sollte Eva Sternheim-Peters letzte Lesung sein. Im März ist sie kurz vor ihrem 95. Geburtstag gestorben. Auf einer Covid-19-Isolierstation.

Ich habe Eva Sternheim-Peters vor fünf Jahren kennengelernt und war anschließend öfter bei ihr zu Besuch. Nie vor 14 Uhr: „Vor vierzehn Uhr bin ich nicht vernehmungsfähig.“ Bis zuletzt war die Germanistin und Historikerin an Auseinandersetzung und Dialog interessiert: Sie bat mich, ihr Artikel über „den sogenannten Kopftuchstreit“ zukommen zu lassen, um sich eine Meinung darüber zu bilden, ließ ihr 2015 neu aufgelegtes Buch über die Verblendung ihrer Generation auf eigene Kosten ins Englische übersetzen, gab Interviews, stand vor der Kamera und hoffte, dass ihr Buch irgendwann noch in den Medien besprochen wird. Warum ihr Buch nie mehr Beachtung gefunden hat, verstehe ich bis heute nicht. Mir hat es wie kein anderes erklärt, wie Menschen auf die NS-Propaganda hereinfallen konnten.

Als Hitler an die Macht kam, war Eva Sternheim-Peters acht Jahre alt. Im Winterhilfswerk erlebte die Lehrerstochter die „neue Bewegung“ als einen „nationalen Sozialismus“: „Plötzlich hatten die Leute wieder Arbeit. Und niemand konnte mehr seine Wohnung verlieren.“ Bald stieg sie im Bund Deutscher Mädel auf, wurde Jungmädelführerin. Dass der NS-Staat ein Unrechtsregime war, realisierte sie erst 1945. Nach einer Kinovorführung wurden auf der Leinwand Leichenberge im KZ Bergen-Belsen gezeigt. „Da herrschte Totenstille. Dann brüllte einer: ‚Unverschämtheit, uns Hungertote aus Indien vorzuführen!‘ Doch: Die Männer und Frauen, die die Toten trugen, trugen deutsche Uniformen. Bergen-Belsen lag mitten in Deutschland.“

Als ihr das bewusst wurde, erzählte sie mir bewegt, habe sie genauso schockiert reagiert wie die nachgeborenen Generationen. Den Rest ihres Lebens verbrachte sie mit der Aufarbeitung ihrer Jugend: Sie studierte und unterrichtete Geschichte, engagierte sich in der Flüchtlingshilfe und hatte Untermieter aus aller Welt. Bis zuletzt ging sie an Schulen und sagte dort: „Am Anfang standen sechs Millionen Arbeitslose. Am Ende hatten sechs Millionen Menschen ihr Leben im Holocaust verloren.“

Ihre Antwort auf die Schülerfrage nach ihrer Meinung zu Beatrix von Storchs Aussage lautete: „Das macht mir Angst. Da bin ich froh, dass ich nicht mehr so lange lebe, noch einmal Ähnliches erleben zu müssen. Aber ich habe große Hoffnung in unsere nun nicht mehr neue Demokratie. Hoffnung, dass sich die Mehrzahl in diesem Land mittlerweile für demokratische Werte starkmacht.“

Der Mann am U-Bahnhof schimpft derweil, 2020 sei das neue 1933: „Erst Maulkorb für alle, dann Zwangsimpfungen: Und ihr so: Mäh! Habt ihr den Schuss nicht gehört?“

Eva-Lena Lörzer