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Wenn der See zum Fluch wird

Afrikas größter See entwickelt sich zur Kloake. Die Anrainer haben kein sauberes Wasser mehr, die Netze der Fischer bleiben leer. Doch am Victoriasee entwickeln sich auch Initiativen, die das Leben wieder lebenswert machen

Aus Uganda Simone Schlindwein undSumy Sadurni, aus Kenia Ilona Eveleens

George Onyango blickt müde aus seiner Lehmhütte. Sein Leben lang wohnt der 75-jährige Fischer am ugandischen Ufer des Victoriasees. Afrikas größter See hat ihm alles gegeben: Wasser, Arbeit, Essen. „Als Fischer habe ich stets gut gelebt“, sagt er. Es habe gereicht, um drei Frauen und 15 Kinder zu ernähren. „Doch jetzt hat der See mir fast alles geraubt.“

Der Mann mit grauen Haaren und Runzeln im Gesicht zeigt aus seiner Hütte das Ufer hinab: auf Schlamm, Morast und ein Beet grüner Wasserlilien. Dort stand einst sein Haus, auf dem Familiengrundstück. Nichts ist mehr übrig.

„Das Wasser stieg seit April langsam an“, berichtet er. Die Lehmwände lösten sich buchstäblich auf. Als ihm das Wasser im Wohnzimmer bis zu den Knien stand, packte er sein Hab und Gut und zog um, wenige Meter das Ufer hinauf. „Wir zahlen nun Miete“, sagt er.

Wenn das Wasser weiter so steigt, müsse er bald wieder umziehen, wie viele seiner Nachbarn, fürchtet er. Bis Mai lebten rund 400 Menschen in Onyangos Dorf Wairaka. Dann spülte das Wasser die Häuser davon. Nur noch 150 Fischer harren aus.

„Der See war noch nie so hoch wie jetzt“, erzählt der alte Mann. Er erinnert sich an das Jahr 1964, als der See den Höchststand von über 13 Metern über Normalniveau erreichte. Mittlerweile sind diese Rekorde gebrochen. Und am Himmel ballen sich weitere Regenwolken zusammen.

Dreißig Millionen Menschen leben an dem Binnengewässer, das viele afrikanische Namen trägt und international seit der Kolonialzeit Victoriasee heißt. Er ist flächenmäßig der drittgrößte See der Erde, etwa so groß wie Bayern. Er spendet Wasser, liefert Fisch, dient als Transportweg. Viele Afrikaner glauben, der fruchtbare Boden rund um den See sei die Wiege der Menschheit: Das Paradies an der Quelle des Nils, von wo aus sich die Zivilisation bis nach Ägypten ausbreitete.

Doch allmählich wandelt sich der See zum Fluch. Das Ökosystem stirbt.

Die Ursachen dafür kommen meist von außen. Eine davon: In den 1980er Jahren wurde eine Wasserlilienart aus Südamerika eingeschleppt. Die Hyazinthen schwimmen auf der Oberfläche und vermehren sich rasant. Inzwischen sind 90 Prozent der ugandischen Küste des Sees davon bedeckt. Sie verwandeln das Wasser in eine grüne schleimige Suppe, die faulig riecht und Tieren den Sauerstoff raubt. Fische und Insekten, die in Ufernähe an den Sandbänken ihre Eier legen, bekommen im Hyazinthenteppich keine Luft mehr.

Diese Artikel sind Teil des Rechercheprojekts “taz folgt dem Wasser”, das mit dem Programm für Entwicklungsjournalismus vom European Journalism Centre gefördert wird.

Damit verlieren die Fischer ihre Lebensgrundlage. „Seit Jahren wird der Fisch immer weniger“, klagt Onyango. Früher habe er mit seinem täglichen Fang rund 11 Euro verdient, genug zum Leben. Mittlerweile sind es nur noch 2 Euro – zu wenig.

Im April führte die Hyazinthenexplosion in Uganda zum landesweiten Stromausfall. Ein Hyazinthenteppich in der Größe von neun Fußballfeldern wurde von der Strömung in den Abfluss des Nils geschwemmt. Dort verstopften die Gewächse zwei Turbinen, die zur Stromgewinnung dienen. Die Technik überhitzte, blockierte und stand still. Wochenlang blieb es in weiten Teilen Ugandas dunkel. Soldaten und Ingenieure mussten mit Baggern und Kränen den Morast wegschaffen und die Dämme säubern.

Die weißen Sandstrände, wo einst Touristen badeten, sind verschwunden. Stattdessen: Hyazinthen so weit das Auge reicht. Jede Pflanze verdoppelt ihre Größe in nur zehn Tagen. Aus kleinen schwimmenden Ansammlungen werden in wenigen Wochen riesige grüne Teppiche.

Der Nil ist der einzige Abfluss des Sees. Durch die Hyazinthenverstopfung steigt der Wasserstand des Sees, der Pegel des Nils sinkt. Hinzu kommen seit rund einem Jahr starke Regenfälle in der Region. Mehr als 100.000 Häuser wurden in Uganda und Kenia zerstört, Fischerdörfer weggespült. In einigen hausen die Menschen auf schwimmenden Plattformen oder leben in Zelten auf ihren Hausdächern.

Im kenianischen Dorf Kanyaywera läuft Sherit Otieno viermal am Tag mit ihrem gelben Eimer zum Seeufer. Es geht über einen unebenen Pfad und dann vorsichtig über riesige handgeknüpfte Fischernetze, die in der Sonne trocknen. Dann watet die Zwölfjährige bis zur Taille ins Wasser und lässt den Eimer volllaufen. Wieder am Ufer, hebt sie den vollen Eimer auf den Kopf und geht zurück zum Haus ihrer Großmutter.

„Das Wasser ist zum Trinken, Kochen und Waschen. Es ist immer schmutzig und trübe. Wenn wir genug Geld haben, benutzen wir Medizin, um das Wasser sauber zu machen. Wenn nicht, haben wir oft Durchfall“, erzählt sie. Sherit wiegt 40 Kilo und trägt jeden Tag das doppelte ihres Gewichts an Wasser nach Hause.

Ihre Mutter arbeitet als Putzfrau in der 75 Kilometer weit entfernten Großstadt Kisumu und verdient knapp 50 Euro pro Monat – das einzige Einkommen für sie, die Großmutter und die zwei Töchter. Das Wasser aus dem See mit Chlor zu behandeln würde monatlich rund 30 Euro kosten.

„Meine Großmutter holte auch Wasser, aber sie ist gestürzt und hat seit Monaten eine große Wunde am Bein, die nicht heilen will, selbst nicht mit teurer Medizin“, erzählt Sherit. Sie selbst hat jetzt Zeit, um Wasser zu holen, weil die Schulen wegen der Coronapandemie geschlossen sind. „Vorher musste ich das ganz früh morgens machen, bevor ich in die Schule ging. Ich würde gerne wieder früh aufstehen, weil mir die Schule sehr fehlt.“

„Als Fischer habe ich stets gut gelebt. Doch jetzt hat der See mir fast alles geraubt“

George Onyango, ugandischer Fischer, der vor den Fluten flüchten musste

Es mangelt nicht an Wasser im regnerischen, bergigen Westen von Kenia. Aber es gibt ein großes Defizit an sauberem Trinkwasser. Nach Angaben der World Water Organization aus den USA sind 40 Prozent der knapp 50 Millionen Kenianer auf unreines Trinkwasser aus Flüssen und Seen angewiesen. Auf dem Lande kostet sauberes Wasser pro Monat durchschnittlich 30 Euro, weil es mit Chlor behandelt oder weit transportiert werden muss. Zwei Drittel der kenianischen Bevölkerung haben monatlich ein Einkommen von höchstens 90 Euro.

„Ich bin hier aufgewachsen und erinnere mich an das Seewasser vor fünfzehn Jahren“, blickt der kenianische Klimatologe Clifford Omondi in Kisumu zurück. „Es war klar, wir tranken es und hatten keine Probleme damit.“ Aber das ist Vergangenheit. „Das Wasser verschmutzt immer mehr, weil die Bevölkerung stark gewachsen ist“, erklärt Omondi. „Ein großes Problem ist der Mangel an guten Toiletten. Die Leute gehen meistens in den Busch, und wegen der Überschwemmungen sind viele primitive Toiletten überflutet oder eingestürzt.“

Im ugandischen Fischerdorf Wairaka sind die Wege matschig, ein übler Gestank liegt in der Luft. Die Fluten haben Abermillionen kleiner Schneckenhäuser angespült, die den barfüßigen Kindern die Fußsohlen zerschneiden. Dadurch können gefährliche Bilharzioseparasiten in den Körper eindringen. Hinzu kommen Moskitos, die überall in den Pfützen brüten. Sie verbreiten Malaria. „Dieses Jahr ist es besonders schlimm“, sagt Fischer Onyango beim Rundgang durch sein Dorf. Medikamente und Arztbesuche kann er sich nicht leisten.

Der 75-Jährige zeigt auf eine Wellblechhalle: die Kirche. Ein rostbrauner Rand in Kniehöhe markiert den Wasserstand im Juni. Daneben: die kleine Moschee, das einzige Gebäude aus Stein im Dorf. Es hat die Fluten intakt überstanden. Dazwischen: ein windschiefer Holzverschlag, um den Fliegen schwirren – die einzige Toilette für Hunderte Einwohner.

Vom Ufer hallt Stimmengewirr. Eine Gruppe Frauen steht in den Hyazinthen, dazwischen liegen Plastikflaschen und weiterer angespülter Unrat. Onyangos jüngste Frau Sarah Naigaga beugt sich über einen Waschkübel. Sie trägt ein türkisfarbenes weites Kleid, ihre geflochtenen Haare sind mit roten Strähnen eingefärbt und zu einem Dutt gebunden. Mit gekonnten Bewegungen scheuert sie T-Shirts und Hosen.

Der Seifenschaum quillt über den Kübel und rinnt zurück in den See. „Seit das Wasser so schmutzig ist, brauche ich mehr Waschpulver, um die Hemden sauber zu kriegen“, klagt sie. Ob zum Waschen, Kochen, Putzen – fünfmal pro Tag watet Naigaga knietief in den See hinein, um jedes Mal einen 20-Liter-Kanister zu füllen. Rund 100 Liter der dreckigen Brühe benötigt sie pro Tag für ihren Haushalt. „Zum Trinken koche ich das Wasser lange ab“, sagt sie und wringt ein Leinentuch aus. Früher konnte man das trinken, sagt sie, heute „haben wir keine Wahl“. Der nächste Wasserhahn mit sauberem Trinkwasser liegt vier Kilometer entfernt – jeder Liter kostet dort umgerechnet 25 Euro-Cent. „Zu teuer für uns.“

Der Rückgang der Fischbestände hat noch andere Ursachen. Gegen Ende der britischen Kolonialzeit in den 1950er und 1960er Jahren wurde der Nilbarsch aus anderen Seen des Nilbeckens in den Victoriasee eingeführt, um den kommerziellen Fischfang zu stimulieren. Die katastrophale Geschichte dieses Raubfisches erlangte durch den Dokumentarfilm „Darwins Alptraum“ weltweit Bekanntheit. Da der als Victoriabarsch vermarktete Fisch hier keine natürlichen Feinde hatte, vermehrte er sich rasant und wuchs auf gigantische Größen an, größer als ein Delfin. Das ökologische Gleichgewicht wurde zerstört, heimische Fischarten wie der Tilapia starben fast aus.

In Europa, den USA oder Asien wird der Barsch zu Sushi verarbeitet. Auf dem Hamburger Großmarkt kostet er als Delikatesse über 20 Euro pro Kilo, in Uganda verkaufte Onyango es für umgerechnet 3 Euro. Doch auch diese Zeiten sind vorbei. Heute einen Barsch zu fangen, sei eine Ausnahme, sagt der Fischer. Der See sei fast leer. Und: „Aufgrund des hohen Wasserstandes verstecken sich die Fische am Ufer unter dem Algen- und Hyazinthenteppich.“ Dort lauerten auch Krokodile und Schlangen: „Es ist sehr gefährlich geworden.“

Die meisten Ugander leben von Ackerbau oder der Fischerei. Die Bevölkerung wächst schneller als jede andere der Welt, aber fruchtbare Böden und Fischbestände gehen zurück. Die Städte wachsen rasant, vor allem der Großraum um die Hauptstadt Kampala, der inzwischen bis an den Vic­to­ria­see reicht. Der offiziell registrierte Fischfang ist von über 120.000 Tonnen im Jahr 2015 auf 90.000 Tonnen im letzten Jahr gesunken, die geringste Menge seit Jahrzehnten.

Gemeinsam mit Kenia und Tansania trifft Uganda Maßnahmen, um die Fischbestände zu schonen. Fischer dürfen nur noch zertifizierte Netze auswerfen, deren Maschen so weit sind, dass sich darin keine Jungfische verfangen. Doch so ein Netz sei zu teuer, klagt der alte Fischer Onyango. Er fürchtet die Kontrollen der Marine: „Wenn sie uns erwischen, schlagen und verhaften sie uns.“

Solche Schutzmaßnahmen ändern nichts an einem weiteren Problem: Ein Großteil des Fischs ist kontaminiert. Ende vergangenen Jahres paddelten Wissenschaftler über den See und entnahmen Proben aus dem Wasser, vom Ufer und aus Fischfleisch. Die Ergebnisse ihrer toxikologischen Untersuchung waren erschreckend. Neben hoher Konzentration von menschlichen Fäkalien sowie Phosphaten aus landwirtschaftlichem Dünger sei das Wasser vergiftet: durch Arsen, Blei und Aluminium.

Besonders alarmierende Werte registrierten sie in der Murchinsonbucht, rund 100 Kilometer von Fischer Onyangos Heimatdorf entfernt. Hier trifft die Hauptstadtregion Kampala auf den See. Aus der Innenstadt von Kampala heraus zieht sich entlang der Eisenbahnlinien der Nakivubo-Abwasserkanal. Er verläuft von der riesigen Müllhalde im Norden der Stadt durch Armenviertel und die geschäftige Innenstadt, durch das Industriegebiet bis zum See hinunter. Man riecht ihn schon von Weitem.

„Die enorme Verschmutzung des Sees wird zur Herausforderung“, seufzt Samuel Apedel, Sprecher der staatlichen ugandischen Wasserwerke. Nur die wenigsten Dörfer und Kleinstädte Ugandas sind an Wasserleitungen angeschlossen. Immerhin: In Kampala spülen 13 Prozent der Haushalte ihr Schmutzwasser in eine Kanalisation aus Kolonialzeiten. Die übrigen Häuser verfügen zumindest über Klärgruben im Garten. Der Inhalt wird von Lastwagen ausgepumpt und den Klärwerken zugeführt. Irgendwann landet alles im See.

Bis zu 240 Millionen Liter Wasser pumpen die Wasserwerke umgekehrt täglich aus der verschmutzten Murchinsonbucht: das Trinkwasser für Kampala und seine gut drei Millionen Einwohner. Um nicht nur dreckige Brühe zu pumpen, mussten jüngst die Rohre verlängert werden: auf 240 Meter vom Ufer entfernt. Gefiltert und gesäubert wird das Wasser in einer Aufbereitungsanlage in einem Vorort von Kampala direkt am Ufer, so Apedel: „Doch dazu müssen wir immer mehr Chemikalien einsetzen und das ist teuer.“ Die Ausgaben für Chlor und andere Mittel hätten sich in den vergangenen Jahren verdoppelt.

Ein Großteil der Abwässer der Metropole fließt ungeklärt in den See zurück. Das soll sich ändern. Deutschland unterstützt über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) Ugandas Wasserwerke mit 40 Millionen Euro. Damit wurde die Aufbereitungsanlage mit modernster Filtertechnologie ausgestattet, Klärwerke wurden errichtet und modernisiert. Auch der Nakivubo­kanal wurde an ein Klärwerk angeschlossen.

Doch der Wasseranstieg im See gefährdet nun die Anlagen. Rund um die Aufbereitungsanlage musste im Mai eine Schutzmauer errichtet werden, um Fluten und Hyazinthen abzuwehren. Apedel warnt: „Wenn wir den See nicht schützen, haben wir bald keine sauberen Wasser­reserven mehr.“

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