: Der Endgegner
Alle schauen Olympia oder auch nicht. Jeder weiß aber, dass gerade Olympia ist, weil die Spiele in London endlich das Sommerloch stopfen. Alle vier Jahre sieht man sich Sportarten an, von denen man nie zuvor gehört hat. Und seit 1984 gibt es auch immer eine Hymne, die mal mehr, mal weniger erfolgreich das Radioprogramm für sich beansprucht. Das hängt davon ab, wie ehrgeizig sie sich gegen den Endgegner durchschlägt.
Die britische Alternative-Rock-Band Muse liefert mit „Survival“ die diesjährige Olympia-Hymne. Der Song birgt alle nötigen Kriterien: episches Streichorchester am Anfang, leichte Steigerung durch Chorgesang, noch mehr Steigerung durch Chorgesang und E-Gitarre, Höhepunkt und Ausklang mit wildem Geschrei. Und worum geht’s? „Wettrennen, das Leben ist ein Wettrennen/ Und ich werde gewinnen, ja ich werde gewinnen.“ Der wackere Kampfgeist ist unumstrittener König unter den Songmotiven für die Olympischen Spiele, doch so wagnerianisch-erschütternd wie Muse hat ihn noch kaum einer formuliert.
Die erste Hymne 1984 kam von Giorgio Moroder. Eigentlich heißt er Hansjörg und kommt aus Südtirol, aber sein Synthesizer-Discosong „Reach Out“, der aus lediglich zwei Phrasen besteht und ansonsten nur zugekokst vor sich hin groovt, passte zum Ethos des Gastgebers Los Angeles wie Preiselbeeren zu Kaiserschmarrn. Heute kennt ihn keiner mehr, denn vier Jahre später hat die Mutter aller Olympia-Hymnen alles und jeden verdrängt: „One Moment in Time“ ist eine dieser nicht enden wollenden Popsong-Epidemien und wird noch heute zu jedem medial inszenierten Siegesmoment aufgelegt.
Dabei war das Lied gar nicht offiziell als Hymne der Olympischen Spiele in Seoul gedacht. Ein unschuldiges Weltverbessererstück namens „Hand in Hand“ vom One-Hit-Wonder Koreana hatte die Spiele eröffnet und sich auch relativ schnell in die Herzen der Chart-Konsumenten eingenistet. Aber Sport bedeutet ja in erster Linie immer Kampf. Als bei der Medaillenvergabe also diese Jahrtausendballade „One Moment in Time“ ertönte, dieses wuchtige Glaubensbekenntnis an die eigene Kraft und an deren Bedeutsamkeit für alle Zeiten, wusste plötzlich keiner mehr, was die letzten Wochen passiert war.
„One Moment in Time“ ist so mächtig, dass Whitney Houstons Leben sich nach 1988 bei jeder künstlerischen Darbietung ihm untergeben musste, bevor es kürzlich baden ging. Es ist ein Lied, das sich selbst zelebriert, und zwar so gefährlich imposant, dass man aus dieser Endlosschleife nie wieder herauszukommen scheint. Auch dieses Jahr nicht.
Sorry, Muse, aber der Endgegner hat gesiegt. FATMA AYDEMIR