piwik no script img

Von der Magie der Gemeinschaft

Sie suchen nach Filmen, kämpfen mit politischen und ökonomischen Widrigkeiten, erzählen sich Geschichten:Im Haus der Statistik am Alexanderplatz eröffnen zwei Cinephile das neue Kino „Sinema Transtopia“

Malve Lippmann und Can Sungu sind Erfinder*innen des Transtopia Sinema Foto: Marvin Girbig

Von Jenni Zylka

In diesen Zeiten ein Kino eröffnen? Gerade jetzt! „Es gibt“, sind sich Malve Lippmann und Can Sungu sicher, „ein Bedürfnis nach Räumen, auch sozialen Räumen, in denen genauso Diskussionen stattfinden wie Filme“. Und diesem Bedürfnis wollen sie Folge leisten – selbst wenn die Epidemie und die damit verbundene Kinokrise momentan an den Nerven der Cineast*innen zerrt.

Die beiden künstlerischen Köpfe des „Sinema Transtopia“ sind Pionier*innen: „Pioniernutzung“ nennen sie die zeitlich (voraussichtlich) begrenzte Verwendung des leerstehenden „Haus der Statistik“ am Alexanderplatz, das mit schwarzen blinden Fenstern auf die Riesenkreuzung schaut. Ins weitläufige Erdgeschoss des Stahlbetonbaus haben sie ein properes Kino gepflanzt, inklusive Leinwand, ausrangierten, aber bequemen Sitzreihen aus einem Plenarsaal in Weißensee, digitaler und analoger Projektionstechnik, einer Bar und einer gehörigen Portion Berlin-90er-Charme. Von den 71 Plätzen dürfen zur Zeit ungefähr 35 belegt werden.

Mindestens bis Juni 2021 werden Lippmann und Sungu, deren Kulturverein „bi’bak“ seit sechs Jahren den Fokus auf transnationale Narrative, Migration und Mobilität legt, hier unter Einhaltung der geforderten Hygienemaßnahmen Filme zeigen, Gäste empfangen und Debatten anstoßen.

„Restart Sinema“ heißt das Eröffnungsprogramm, das Kino als Ort und Medium reflektiert. Gemeinsam mit fünf internationalen Kurator*innen haben Lippmann und Sungu zum Beispiel den sudanesischen Dokumentarfilm „Talking about Trees“ ausgewählt, der 2019 den Publikumspreis im „Panorama“ der Berlinale gewann, und in stillvergnügten Bildern eine Gruppe betagter Männer begleitet, die ein altes Kino wiederbeleben wollen. Sie suchen nach Filmen, kämpfen mit politischen und ökonomischen Widrigkeiten, erzählen sich Geschichten, und beweisen, dass das Kinoerlebnis elementar für eine Gesellschaft ist: Auch hier geht es (neben dem möglichen Eskapismus) stets um das kollektive Erleben, das die gemeinsame, anstatt die isolierte Diskussion fördert. In anderen Beiträgen der Reihe wird der Umgang mit dem Medium ebenfalls zur Story: „Por Primera Vez“, ein kubanischer Kurzfilm von 1967, beobachtet Menschen, die zum ersten Mal „laufende Bilder“ sehen – und spiegelt anhand ihrer Reaktionen die Faszination des Kinos. In langen, zauberhaften Einstellungen erzählt der taiwanesische Regisseur Tsai Ming-Liang in seinem 2003 entstandenen „Goodbye Dragon Inn“ auf mehreren Ebenen von der Vermischung zwischen Realität und Film, zwischen Sentiment und Magie.

Schwertkampfklassiker

In einem kurz vor Schließung stehenden Kino wird ein „Wuxia“- (Schwertkampf-)Klassiker gezeigt. Während der Vorführung erleben die wenigen Zuschauer*innen und Mitarbeiter*innen ihren eigenen Film – einige schmachten nach ihrer Vergangenheit in der Filmbranche, einige nach Liebe, andere suchen Geister. Neben der Unterhaltung „jenseits des Kommerziellen“ soll sich der Raum jedoch vor allem dem Diskurs öffnen. Bedarf gibt es genug: Bereits in ihrem kleineren Weddinger Projektraum hatten die beiden erfolgreich Filme gezeigt, die von einer eurozentristischen Denkweise abweichen. Für „Sinema Transtopia“ gab es 70.000 Euro aus dem Hauptstadtkulturfonds, dazu Senatsförderung – nicht viel für einen Betrieb, aber der Anfang zu einem umfassenderen Kinoverständnis. „Kino darf nicht wirtschaftlich gedacht werden“, findet Lippmann, es sei ein Bildungsort, ein Kulturort – und Kultur dürfe nie nach reinen Verkaufsaspekten gestaltet werden.

Nach „Restart Sinema“ wird es unter der Überschrift „How do we see each other?“ ein Programm mit Filmen aus Asien und dem mittleren Osten geben, die zum Beispiel die dortige LGBTQ-Szene thematisieren, später ein Programm aus der Golfregion. Der Name deutet es an: Der Begriff „Transtopie“ stammt vom Soziologen Erdol Yildiz, und bezeichnet „Orte des Übergangs, an denen marginalisierte Akteure (...) ins Zentrum der Betrachtung rücken, privilegiert, zum Teil auch kultiviert werden, Orte, an denen herrschende Normen in Frage gestellt und eine andere urbane Selbstverständlichkeit erzeugt wird“. Besagte „andere urbane Selbstverständlichkeit“ hatte man dem entkernten und/oder gentrifizierten Alexanderplatz-Kiez in den letzten Jahren brutal ausgetrieben. „Sinema Transtopia“ bietet eine Chance, sie wieder zu umarmen.

Eröffnung am 3. 9. mit „Talking about Trees“, mehr Programm online Karten buchen unter: www.bi-bak.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen