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Männlich, weiblich, teuflisch

Schwierige Situation, schwierige Präsentation: Die Lage brasilianischer Künstler*innen im Onlineprogramm des internationalen Berliner Festivals Tanz im August

Von Astrid Kaminski

Vier Männer stehen an der Wand. Posen wie zum Durchsuchungsbefehl. Drumherum sitzen Menschen. Irgendwann fangen sie mit der Durchsuchung an. Werden fündig. Aber etwas ist seltsam. Sie tragen keine Uniformen, die sie als handlungsberechtigt erkennen ließen. Was ist die Absprache? Gibt es einen Durchsuchungsbefehl? Der Kurzfilm „About questions, shames and scars“ von Alice Ripoll, der vom weltweit tourenden Aufklärungs- und Widerstandsformat „Brazil hijacked“ und dem Berliner Festival Tanz im August, das dieses Jahr großteils online stattfand, koproduziert wurde, wirft viele Fragen auf.

Wer weiß, dass die Szene sich auf Ripolls Live-Performance „aCORdo“ aus dem Vorjahr bezieht, kann einige davon lösen: Die vier Männer sind Tänzer. Sie haben dem Publikum zuvor einige Wertsachen entwendet. Als sie später in Pose an der Wand stehen, gibt es keine Aufforderung, die Sachen wieder an sich zu nehmen. Diejenigen, die es tun, üben also eine Art Selbstjustiz aus. Zudem fällt auf, dass die mutmaßlich „Justiziablen“, die an der Wand stehen, dem gängigen Täterklischee entsprechen: Sie sind jung, männlich und nicht weiß – vor allem Letzteres im Gegensatz zum Selbstjustiz übenden Publikum im Film. Die Performance, worauf er referiert, spielt mit Grenzüberschreitungen in Bezug auf Persönlichkeits-, Eigentumsrecht und symbolische Werte: Offenbar ist sich das Publikum, das sich im Recht sieht, die Sachen, die vor ihren Augen entwendet wurden, wieder an sich zu nehmen, weder des Symbolwerts der Situation bewusst, noch unternimmt es eine Abwägung zwischen Eigentums- und anderen Persönlichkeitsrechten. Die einzige Logik scheint: Wer mir in die Tasche greift, dem greife ich auch in die Tasche.

Während jedoch die Performance „aCORdo“ die Reduzierung der komplexen symbolischen Situation auf ein Auge-um-Auge-Prinzip aufdeckt, bietet der Film zu wenig Indizien dafür. Ohne Hintergrund ist das Staging nicht nachvollziehbar. Es wird nicht klar, dass die Szene ein dokumentarischer Ausschnitt aus der Performance ist. Und auch die immer wieder eingeblendeten Gesprächsausschnitte zwischen „Täter“-Cast und Regisseurin erläutern in dieser Beziehung nichts, sondern beziehen sich vielmehr auf eine weitere Insider-Position: die des persönlichen Verhältnisses und der Arbeitsumstände. Auch hierzu wäre es gut zu wissen: Die vier „Täter“-Performer sind Tänzer*innen, die in einer brasilianischen Favela aufgewachsen sind und von der Regisseurin und Choreografin Alice Ripoll „entdeckt“ wurden.

Künstlerische Übermutter

Die Konstellation zwischen künstlerischer Übermutter aus eher privilegierten und Cast aus nicht-privilegierten Verhältnissen ist dabei fast schon ein Muster, in dem sich brasilianische Performancekunst in Europa präsentiert. Auch Deborah Colker oder Lia Rodrigues arbeiten wie Ripoll in solchen Konstellationen. Im Webinar-Format „Choreographies of a split country“ wird sich die Moderatorin Nayse Lopez, Journalistin und Festivalleiterin in Rio, dieser Situation auch in Bezug auf sich selbst bewusst und fragt in die Runde, was denn in Zukunft die Rolle von „Weißen“ sei. Um dann selbst darauf zu antworten: „Wenn ihr uns sagt, was wir tun sollen, werden wir trotzdem die Protagonisten bleiben wollen“.

Tanz im August hat in seiner diesjährigen Special Edition der Lage der Künstler*innen in Brasilien zwei digitale Programmpunkte eingeräumt, die allerdings beide zu wenig aufbereitet sind. Das gilt für technische Fragen wie überblendete oder zu schnell laufende englische Untertitelungen, mehr aber noch für inhaltliche Fragen, vor allem solche der Präzision in Machart und Featuring der Video-Performances und Filme. Das Programm von „Brazil Hi­jacked“ wird von Festivaldirektorin Virve Sutinen, die noch allerlei andere kulturpolitische Schulterschlüsse unterkriegen will, mehr weg- als anmoderiert, während der Programmleiter Eduardo Bonito als Moderator vor Künstler*innenliebe so verlockend dahinschmilzt, dass man zwar gerne mitschmelzen würde, aber wenig Kontext erfährt.

Das gilt auch für das Gespräch zur Videoperformance „Ciudado com aquela bizarra“ (etwa: Achtung, bizarre Person) von Princess Ricardo Marinelli. Die Prinzessin spielt eine dreigeteilte Person, repräsentiert durch drei Gesichtshälften: Im linken Auge fehlt die Pupille, das rechte ist von einem Kranz künstlicher Wimpern gesäumt. Links trägt sie Bart, rechts ist die Haut glatt, der Mund mit gelbem Lippenstift geschminkt. Das symmetrischste Element an diesem Gesicht findet sich auf der oberen Hälfte: links und rechts ein Horn. Wofür steht „m/f/d“ noch mal? Male/female/devil? Verteufelt zumindest fühlt sich Princess Ricardo Marinelli im Brasilien Bolsonaros. Verteufelt, gejagt und sogar mit dem Tod bedroht. Das wird in der eindrücklichen Performancesuada klar.

Schwieriger ist die Einordnung der Überzeichnungen. Von einer patriarchalen Prinzessinnenerziehung, in die brasilianische Mütter ganze Vermögen stecken würden, nur damit die Töchter Tischetiketten wie im 17. Jahrhundert lernen, ist die Rede. Ist sie soziales Phänomen oder künstlerische Fantasie? Hier wäre beides denkbar und legitim.

Ist die Prinzessinnen­erziehung soziales Phänomen oder künstlerische Fantasie?

Wenn aber eine Menschenrechtsministerin zitiert wird, die sagt, man wolle in Brasilien keine Zustände wie in den Niederlanden, wo Babys im Alter von sieben Monaten masturbieren lernten, dann wäre es schon gut zu wissen, ob Fiktion oder real. Bei einer Recherche stellt sich heraus: vermutlich real. Allerdings soll Damares Alves die Aussage vor sieben Jahren als damals noch evangelikale Priesterin, nicht als Ministerin gemacht haben. Das können nur Insider wissen, auch wenn generell klar ist, worum es hier geht: Hass als politisches Mittel.

Hatespeech ist Hatespeech, aber Präzision ist auch Präzision. Die Überzeichnungen eines Politkabaretts sind nicht ohne Weiteres auf ein online abrufbares, künstlerisches Aufklärungsformat übertragbar. Es macht in Bezug auf den demokratischen Umgang mit einem als „neofaschistisch“ bekämpften Regime, durchaus einen Unterschied, ob Alves die Aussage als Menschenrechtsministerin machte oder nicht.

Das heißt nicht, dass heißer performt würde als gekocht. Die Situation im Riesenland Brasilien stellt sich katastrophal dar. Kein*e Gesundheitsminister*in, kein Kulturministerium, mehr als 120.000 offizielle Covid-19-Tote, 60.000 Neuinfektionen pro Tag, die Abholzung des Regenwalds, die Bedrohung und Ermordung indigener Völker und Schwarzer Menschen geht weiter. Große Theater wie das Teatro Municipal in Rio de Janeiro wurden bereits dichtgemacht, Gelder für das Überleben der Künste kommen vielfach nur aus dem internationalen Kontext, ein von beiden Kammern im Parlament bewilligtes Hilfspaket von 3 Milliarden Real (etwa 500 Millionen Euro) für die Künste wurde von Präsident Bolsonaro bislang noch nicht unterschrieben.

„Gegenseitigen Schutz“ wünschen sich die bei Tanz im August präsentierten Künstler*innen von der internationalen Solidargemeinschaft. Oder, wie die indigene Künstlerin Zahy Guajajara es in einer ruhigen Porträt-Video-Performance sagt: „Das Virus lehrt uns, dass nichts, was wir aufbauen von Wert ist, wenn wir es nicht teilen können.“ Zum Teilen allerdings braucht es Teil­neh­me­r*in­nen. Der letzte Part des Public Viewings im Outdoorfestivalzentrum vor dem Berliner Hebbel-Theater erfolgte vor der Berichterstatterin und einer neugierigen Ratte, während das Festivalteam bereits die Liegestühle abbaute und von der Friedrichstraße her die ohrwurmigen Verschwörungstheorielieder von nächtlichen Demonstrant*innen durch Megafone wummerten.

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