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Irrfahrt zum Selbst

Zum Auftakt des Sommerfestivals auf Kampnagel in Hamburg führt die Performance-Gruppe Ligna in ihrem Audiowald „Ulysses 2.0“ die Irrfahrt des Odysseus und die Entstehung des Lebens zusammen

Von Katrin Ullmann

Gegen Ende der Irrfahrt betrete ich den Hamburger Mariendom. In der Hoffnung auf kühlere Luft. „Das Programm ist nicht beendet“, versichert mir eine Stimme. Hinten im Altarraum löscht jemand mit einem armlangen Löschhut die Kerzen aus. Ruhig und andächtig. Das passt doch gut, denke ich. Die Kerzen sind jetzt aus. „Das Programm ist nicht beendet“, höre ich die Stimme wieder sagen, und: „Das Programm ist jetzt in Ihren Ohren.“

Das Programm heißt „Ulysses 2.0“ und stammt von der Performance-Gruppe Ligna. Im Rahmen des diesjährigen Sommerfestivals auf Kampnagel – coronabedingt wurde es zu einer Special Edition – haben Ole Frahm, Michael Hueners und Torsten Michaelsen wieder einen ihrer charakteristischen Audiowalks geschaffen. Wieder findet er im urbanen Raum statt, Thema sind diesmal die mikrobiologischen symbiotischen Prozesse in der Entstehung des Lebens und die Irrfahrt des Odysseus. Wie das – auf einer Tonspur – zusammengeht?

Die Performer verstehen Odysseus nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als listigen Helden, der zweckrational handelt und damit die bürgerliche, kapitalistische Subjektivität vorzeichnet. Auf seiner jahrelangen Irrfahrt überwindet Odysseus Naturgottheiten und Monstren wie den Zyklopen, um nach Hause zurückzukehren. Diese Irrfahrt ist letztlich der Weg zum Ziel: Die Natur zu beherrschen, die Welt zu unterwerfen – mit katastrophalen Folgen. Entsprechend muss die Odyssee umgeschrieben werden als eine Reise, in der es nicht darum geht, aus der Fremde wieder nach Hause zu kommen, sondern diese fremde Welt im Umherirren und als Ort der Symbiosen und Kooperationen zu erfahren.

Die Biologin Lynn Margulis, der Naturwissenschaftler James Lovelock, James Joyce, Homer sowie jede Menge Bakterien und Mikrooganismen: Für eine gute Stunde Audiowalk ist das eine Menge Stoff, ein Programm, das sich außerdem anschließend in den Ohren festsetzen soll, und also dann noch weiterläuft, wenn das Ausgabegerät längst wieder abgegeben wurde.

Und dazwischen, also zwischen Beginn der Reise und den kleinen Rauchwolken im Mariendom, liegt auch noch die eigene Reise. Die findet dieses Mal, corona- und konzeptbedingt, ganz vereinzelt und höchst individuell und frei statt. Schließlich ist „jeder Weg einer von unendlich möglichen“. Die Richtung ist weniger wichtig, vielmehr geht es darum, „das Überkommene hinter sich zu lassen“, die Steine der Stadt zu entdecken und über das Gehen an sich und die Funktion von Mikrotubuli nachzudenken.

„Gehen Sie los! In welche Richtung? In jede Richtung!“ Also gehe ich durch den Lohmühlenpark, über dessen vertrocknete Rasenflächen Hunde rasen und Basketbälle fliegen, dessen Wege in der Abendsonne hüfthoch im Staub stehen, weiter zu einem Hochschulgelände aus Backstein und postmoderner Waghalsigkeit. Später gehe ich, so wollen es die Ansagen, einäugig weiter – wie der Zyklop Polyphem – und folge einem Unbekannten und seinen Discounter-Plastiktüten bis zu dessen Haustür in der Sozialbausiedlung.

Ich drehe mich weg, nehme die Richtung, die mir meine Handlinien zeigen, irre durch Baustellen und Hinterhöfe und erlebe diese Räume mit meinem ganz eigenen Soundtrack, genauer gesagt: mit Lignas. Nur wenige Handlungsanweisungen steuern mich. Doch als ich mir zwischen Bauschutt, einer verlassenen Kfz-Werkstatt und der kalten Abluft einer Tiefgarage einen Ort suchen soll, den ich nur mit den Händen ertasten soll, um mir wie Odysseus einen Weg zwischen den Felsen zu bahnen, setze ich mich auf ein paar Stufen und höre tatenlos zu. Es merkt ja keiner außer mir, dass ich gerade aus der Performance aussteige. Da ist ja kein Publikum. Als mir später die Tonspur vom Wind erzählt, saust ein kleiner Junge auf seinem Laufrad vorbei. War das gerade Aeolus?

Ich setze mich auf ein paar Stufen und höre tatenlos zu. Es merkt ja keiner, dass ich aus der Performance aussteige. Da ist ja kein Publikum

Das Herrliche beim Programm „Ulysess 2.0“, auch wenn es thematisch allzu dicht und inhaltlich eigentlich überfordernd daherkommt, ist das Erlebnis von Theater ohne Theater. Es ist eine Performance, die vor allem in den Köpfen der Teilnehmer entsteht und die – durch das Neu-Erleben und Neu-Konnotieren des öffentlichen Raums – immer wieder unvorhersehbare Situationen, Momentaufnahmen und Symbiosen schafft.

Es ist tatsächlich eine Reise, auf der man sich verirren darf und soll (eine nähere Umgebungskarte sowie eine Notfalltelefonnummer hält der Handzettel bereit), und natürlich eine Spielanordnung mit all ihrer Unkontrollierbarkeit. Angeleitet durch den Text, durch Handlungsanweisungen, Zitate, Verweise und Gedankengänge wird die eigene Imagination zum essenziellen Bestandteil dieser höchst individuellen Performance. Und auch wenn sie in diesem Fall immer wieder von der Vereinzelung und vom gesunden Abstand zwischen den Menschen erzählt, schafft sie doch ebenso die Gewissheit von der Gleichzeitigkeit der Dinge. Nicht nur im biologischen Sinn. „Man kann nicht an einem Ort wohnen, ohne auch von ihm bewohnt zu werden“, schließlich leben mehr als 10.000 verschiedene Arten von Bakterien im und am Menschen.

Sondern auch im soziologischen: „Der Mensch gehört an alle Orte zusammen. Aufbrechen. Nicht aufhören, aufzubrechen.“ Langsam gehe ich zum Ausgangspunkt zurück, gebe das Leihgerät zurück. Damit auch andere aufbrechen und sich verirren können.

„Ligna: Ulysses 2.0“: bis Sa, 30. 8., Mi–Do, 18–21 Uhr, Hamburg; eine konkrete Zeit wählt man beim Ticketkauf; Start am Spielhaus im Lohmühlenpark; www.kampnagel.de

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