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Dokumente des Umbruchs

Aus Städten und Dörfern: Im Zeughauskino sind ab Samstag in der Filmreihe „Outcry and Whisper“ die Arbeiten von Regisseurinnen im unabhängigen chinesischen Dokumentarfilm zu sehen

Von Fabian Tietke

Zwischen zwei Birkengruppen öffnet sich der Blick auf die Hochspannungsleitung. Zwischen den gefällten Birken in der Mitte sammelt eine alte Frau Brennholz. Ihr Körper ist vom Alter gebeugt, beim Gehen ist ihr Oberkörper fast parallel zum Weg geneigt. Einen Ast in der Rechten, einen Korb in der Linken, die Kamera folgt ihr auf dem Weg zurück nach Hause. In aus dem Off zu hörenden Erzählungen erinnert sich die Frau in dem Film an die Geburten ihrer Kinder.

Unter widrigsten Bedingungen hat sie in der nordchinesischen Provinz Kinder geboren. Der nächste Arzt ist 30Kilometer entfernt. Ihre Enkelin arbeitet in den großen Technikfabriken Chinas, um ihrerseits ihre Kinder zu versorgen. Zhang Mengqis „Self-Portrait: Birth in 47 KM“ setzt, vermittelt über die Montage, zwei Generationen von Frauen in Beziehung zueinander und gibt anhand des Geburtsortes der Regisseurin einen Eindruck von Stillstand und Stagnation in der chinesischen Provinz.

Das Dorf ist nur zu erreichen, indem man dem Busfahrer mitteilt, man wolle 47 Kilometer hinter der Stadt aussteigen. Hier leben die Alten und die Kinder, die Generation dazwischen ist in die Städte gegangen. Zhangs „Self-Portrait: Birth in 47 KM“ eröffnet am Samstag die Filmreihe „Outcry and Whisper“, mit der im Zeughauskino mit insgesamt 16 Arbeiten das unabhängige dokumentarische Filmschaffen chinesischer Regisseurinnen vorgestellt wird.

Der chinesische Dokumentarfilm, wie wir ihn heute kennen, ist eines der wichtigsten Ergebnisse des medialen Umbruchs in China Ende der 1980er Jahre. Teils in Überschneidung mit Arbeiten von Regisseuren der sechsten Generation wie Jia Zhangke, Lou Ye und Wang Bing, die mit Mischformen aus Spiel- und Dokumentarfilm bekannt wurden, begannen Filmemacher jenseits der Pekinger Filmakademie wie Wu Wen­guang mit Dokumentarfilmen über gesellschaftliche Außenseiter, die bis dahin unsichtbar geblieben waren. Gemeinsam mit seiner Partnerin, der Tänzerin Wen Hui, gründete Wu Mitte der 1990er Jahre im unterdessen abgerissenen Pekinger Vorort Caochangdi das Living Dance Studio.

In ebenjenem Studio studierte Zhang Mengqi zeitgenössischen Tanz und Volkstanz. Mitte der 2000er Jahre rief Wu das Village Documentary Project ins Leben. Zhangs Filmarbeit setzt diese Initiative mit ihren Filmen über ihr Heimatdorf bis in die Gegenwart fort. Neben dem Eröffnungsfilm laufen noch zwei weitere Filme von Zhang: „Self-Portrait: Sphinx in 47 KM“ und „Self-Portrait: Window in 47 KM“; die drei Filme bilden so etwas wie das Gerüst der Filmreihe, zwei der Filme sind ergänzt durch kurze Erstlingswerke der wiederum nächsten Generation von Filmemacherinnen.

Zhangs Filme sind beispielhaft für die gewachsene Anzahl von Regisseurinnen im unabhängigen Dokumentarfilm. Mit dem Sinken der technischen Schwelle bei der Produktion solcher Filme wurde auch in China eine größere Vielfalt von Stimmen im Dokumentarfilm hörbar – nicht zuletzt die von Frauen.

Shengze Zhus Regiedebüt „Out of Focus“ sieht man an, dass die Regisseurin ausgebildete Fotografin ist. In ruhigen, weiten Einstellungen dokumentiert sie, ausgehend von einem Fotografieworkshop mit Grundschulkindern in Wuhan, das Leben der Workshopteilnehmer, ihr Umfeld, die baufällige Grundschule, die tiefen Straßenschluchten. Schon bald beginnt die Regisseurin, sich auf das Zimmer zu konzentrieren, in dem die zwölfjährige Qin mit ihrer Familie wohnt.

Auch in China wurde eine größere Vielfalt von Stimmen im Dokumentarfilm hörbar

Die Familie wird vorgestellt durch Fotos von dem Mädchen, wie sich überhaupt Fotos von den Kindern durch den ganzen Film ziehen. Die Familie lebt extrem beengt in ärmlichen Verhältnissen. Das Mädchen musste es gegen den Willen des Vaters durchsetzen, weiter zur Schule gehen zu dürfen. Der Vater ist in den Aufnahmen aus der Wohnung der Familie fast komplett abwesend. In der Sequenz, die ihn vorstellt, wird klar, dass er mit dem Transport von Baumaterialien gerade so sein Auskommen verdient und kein Verständnis für die Ambitionen seiner Tochter hat.

Während Zhang Mengqi in „Self-Portrait: Birth in 47 KM“ eher die Kontinuität zwischen Großmutter und Enkelin unter Frauen in der chinesischen Provinz zeigt, stehen in „Out of Focus“ die Ambitionen und Träume der jungen Qin im Zentrum – auch wenn sie selbst wenig dazu sagt.

Zeughauskino-Mitarbeiter Christian Lenz hat mit „Outcry and Whisper“ eine beachtliche Filmreihe kuratiert. Die Reihe ergänzt all die Reihen, in denen chinesisches Kino in den letzten Jahren in Deutschland sichtbar wurde, um eine Facette, die bislang nur vereinzelt anklang: die Stimmen von Filmemacherinnen in der Transformation, die China weiterhin umwälzt. Und Filmemacherinnen wie Zhang Mengqi und Shengze Zhu fügen den Dokumenten des Umbruchs ihrer männlichen Kollegen Aspekte hinzu, die bei diesen unsichtbar blieben.

Outcry and Whisper: Zeughauskino, Unter den Linden 2. 8. August bis 8. September. www.dhm.de/zeughauskino

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