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Das, was bleibt

Anfang Juli feierten Erwin und Karin Herb Diamanthochzeit. Ihre Enkelin kann sich an keine zärtliche Geste, an kein „Ich liebe dich“ erinnern. Was bleibt nach 60 Jahren Ehe?

Von Sarah Bioly

Ich liebe Dich, liebe Karin, von ganzen Herzen“, schrieb mein Opa in einem Brief am 2. Dezember 1959. „Du bist mein ganzes Glück, ich wüßte nicht, was ich anfinge, wenn ich Dich verlieren sollte“, schrieb meine Oma am 9. Dezember 1959.

Über 60 Jahre später sitzen meine Großeltern an einem Esstisch. Die Uhr tickt. Oma blickt auf ihre faltigen Hände, Opa durch die Glasfront des Wintergartens. Die Uhr tickt, das Holz der Balken knarrt. „War die Post schon da?“, fragt Oma.

Seit 60 Jahren sind meine Großeltern verheiratet. Und ich kann mich an keinen Kuss, keine zärtliche Berührung, kein „Ich liebe dich“ erinnern. Frage ich meine Oma, was ihr damals an meinem Opa gefallen hat, sagt sie: „Es kam halt nichts Besseres.“ Als ich meinen Opa frage, was aus ihrer Liebe wurde, sagt er: „Man braucht sich halt.“

Meine längste Beziehung ging rund vier Jahre, nach der Hälfte der Zeit war die Luft raus. Jetzt habe ich wieder einen Freund, ich genieße die Zeit mit ihm, aber ich sorge mich auch, dass es irgendwann wieder so ist, wie in meiner ersten Beziehung. Ich will wissen, ob es auch anders geht.

Am 1. Juli, dem Tag vor der Diamanthochzeit meiner Großeltern, fahre ich deshalb zu ihnen. Ich will mit ihnen über ihre Liebe sprechen. Ich will wissen, was nach 60 Jahren Ehe bleibt.

Rechts von mir sitzt mein Opa: weiße Haare, kurzärmliges Hemd, Ehering. Links meine Oma: graue Haare, Ehering, T-Shirt mit der Aufschrift „Love & Stars“. In ihren Händen halten sie vergilbte Seiten, die mit säuberlichen Buchstaben gefüllt sind. Es sind ihre Liebesbriefe. Sie stammen aus den Jahren 1959 und 1960, in denen mein Opa seine Wehrpflicht erfüllte.

Die Worte, die sie oft nicht fanden, wenn sie beisammen waren, schrieben sie sich. Meine Oma versicherte meinem Opa, wie sehr sie ihn liebte und erzählte, wie allein sie sich gefühlt hat, bevor sie ihn traf. An ihren gemeinsamen Tagen konnte sie ihm das oft nicht zeigen, wollte er sie küssen, drehte sie den Kopf weg. Warum, kann sie heute selbst nicht mehr sagen. In jedem Brief schrieben sie, wie sehr sie sich danach sehnten, endlich für immer zusammen zu sein. Schließlich hielten sie das Warten nicht mehr aus, mit 21 Jahren heirateten sie. Am 2. Juli 1960.

Sie erschufen ihre Welt: „61 wurde Wolfgang geboren, 62 hat Opa die Meisterprüfung gemacht, 63 haben wir das Haus gebaut, 64 sind wir eingezogen.“ Meine Oma rasselt die Jahreszahlen herunter. „77 habe ich die Firma Alnufa mit aus der Taufe gehoben, 79 sind wir zum Scania-Händler aufgestiegen, 85 in die neuen Gebäude in Markt­oberdorf eingezogen“, stimmt mein Opa mit ein.

Es sind die Jahre, in denen sie sich ihre Träume erfüllen. Kinder, Haus, Bürgerlichkeit.

Du liebst mich, so wie ich bin, wenn es auch manchmal nicht ganz leicht für dich ist

Doch je älter sie wurden, desto stiller wurde es im Haus. Zuerst zog mein Onkel aus, dann meine Mutter. Tante, Vater und Mutter meiner Oma starben. Und irgendwann waren auch die vier Enkel groß. Als mein Opa in Rente ging, konnte er die Stille kaum ertragen. Zuhause war er unruhig. Immer wieder kontrollierte er das Konto seiner Kfz-Firma, obwohl er sie an seine Kinder übergeben hatte. Auch für meine Oma war das ein Wendepunkt. Plötzlich war mein Opa den ganzen Tag da.

Meine Großeltern mussten einen neuen Weg finden, miteinander umzugehen. Zärtlichkeit, so wie früher, gab es nicht mehr. Sie war im Lärm, im Leben mit den Kindern und der Arbeit untergegangen. Es gab keine Sonntagsspaziergänge mehr, bei denen sie Händchen hielten und über ihre Zukunft sprachen. Es gab kein Sofa mehr, auf dem sie sich aneinander kuschelten. Schauten sie Fernsehen, hatte jeder seinen eigenen Sessel, dazwischen ein Beistelltisch mit Medikamenten. Saßen sie auf den Terrassenstühlen, dann trennten sie die Lehnen.

Rund zwei Jahre, nachdem mein Opa in Rente gegangen war, wurde meine Oma schwächer, Diabetes. Das Laufen fiel ihr schwerer, und sie konnte nicht mehr stundenlang im Garten knien. Also half mein Opa beim Pflanzen und Jäten.

Im November vergangenen Jahres musste die Ärzte ihr dann die rechten Zehen abnehmen, sie wurden nicht mehr durchblutet. Mein Opa übernahm die Pflege. Waschen, föhnen, Verbände wechseln. Als es ihr besser ging, bekam meine Oma eine Gehhilfe, die ihr Bein wie ein Gerüst umrahmt. Seitdem führt er sie, stützt sie. Sie ist jetzt seine Aufgabe.

Frage ich die beiden, wie es ihnen geht, dann sagen sie: „Wir sind zufrieden.“ Meine Oma spricht nicht über schlechte Zeiten. Als Kind war sie für mich immer die Starke. Eine Frau, die niemals weinte, die immer weitermachte. Mein Opa gibt zu, dass das halbe Jahr nach der Operation nicht einfach war. Sie konnte nichts mehr, er musste alles machen. Durch die Krankheit kamen sie sich aber auch wieder näher. In den zwei Tagen meines Besuchs sucht ihre Hand immer wieder die seine. Läuft er neben ihr, greift sie nach seinen Arm. Dann passt er sich ihrem Tempo an. Es ist das erste Mal, dass sie Hilfe annimmt – und es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie sie Händchen halten.

Vögel zwitschern. Meine Großeltern sitzen auf der Terrasse mit den Geranien. Oma blickt in die Ferne, Opa auch. Es ist der 2. Juli. Heute Abend feiern sie im Kreis der Familie ihre Diamanthochzeit. „Um die Zeit waren wir vor 60 Jahren schon verheiratet“, sagt Oma mit Blick auf die Uhr. Immer wieder wandern ihre Gedanken an diesem Tag in die Vergangenheit. Damals stand ihnen die Welt offen, ihre Träume lagen vor ihnen. In ihren Briefen versicherten sie sich, wie glücklich sie als Paar werden würden.

Abends dann sitzen die Gäste um den Esstisch, meine Großeltern am Kopfende. Statt wie gewohnt gegenüber, haben sie dieses Mal nebeneinander Platz genommen. Heute soll kein Tisch, keine Stille, keine ungesagten Worte die beiden trennen. Meine Oma erhebt sich, in der Hand hält sie ein weißes DIN-A4-Blatt, das mit säuberlichen Buchstaben gefüllt ist. „Wir haben Höhen und Tiefen, Freud und Leid erlebt“, beginnt sie. Sie spricht über die gesundheitlichen Probleme und dass sie die zu zweit überwunden haben.

Dann plötzlich bricht ihr die Stimme weg. Sie muss schlucken, hält die Tränen zurück. Es ist das erste Mal, dass ich meine Oma außer Fassung erlebe. Es ist nur ein Augenblick, dann findet sie den Faden wieder, klammert sich an die Buchstaben auf dem Papier und fährt mit stockender Stimme fort. „Du warst immer für mich da. – Danke.“ Als sie geendet hat, läuft meinem Opa eine Träne über die Wange, er steht auf, umarmt sie. Sie drückt ihr Gesicht an seine Schulter.

Du verstehst mich und liebst mich, so wie ich bin, wenn es auch manchmal nicht ganz leicht für Dich ist. Aber ich werde es dir danken, indem ich Dir immer treu bin, bis ans Ende, was auch kommen mag, ich werde zu Dir halten und Dich nie verlassen oder enttäuschen“, schrieb meine Oma am 16. Dezember 1959.

Immer und immer wieder muß ich es Dir gestehen, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe und Dich nie mehr frei geben werde, da kann kommen, was will“, schrieb mein Opa am 23. Februar 1960.

Eine größere Feier mussten sie wegen der Coronapandemie absagen. Im nächsten Frühjahr aber wollen sie sich vor einem Pfarrer, vor allen Freunden und der Familie, noch einmal das Jawort geben.

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