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Spuren des Körpers

Der Lehm, in den alle zurückkehren: Im Kunstmuseum Bochum zeigt Abraham David Christian seine Skulpturen, die reduziert und meditativ anregend sind

Von Max Florian Kühlem

Der Kopf weiß es ja, erreicht man den schönen Oberlichtsaal des Kunstmuseums Bochum, betritt man unweigerlich die Einzelausstellung einer Künstler*in. Trotzdem gibt es jetzt dieses Gefühl: Das sind archäologische Fundstücke, Ausgrabungen, möglicherweise undatiert, Reste künstlerischen Tätigseins, vielleicht einfach – menschlichen Tätigseins. Und selbst der Mensch, der sie geschaffen haben soll – er heißt Abraham David Christian – sagt: „Manchmal stehe ich vor meinen Skulpturen und frage mich: Habe ich das gemacht? Ich weiß es nicht.“

Der 1952 in Düsseldorf geborene Bildhauer ist stark von fernöstlicher Philosophie, Religion und Lebensweise beeinflusst. Deshalb gefällt ihm der Gedanke, hinter seinem Werk zu verschwinden. Dass irgendwann in der Zukunft vielleicht Be­trachter*innen seine Skulpturen aus Lehm oder Eisen anschauen und sich fragen, aus welchem Jahrhundert sie stammen, wer sie gemacht hat. Und die Antworten sind nicht ein Name und ein Datum, sondern ein Gefühl für eine überzeitliche Verbindung, die zwischen allen Menschen und Lebewesen und Dingen herrscht; für das Göttliche in allen Dingen, das die Japaner „Kami“ nennen und die Europäer Pantheismus.

Zu den Widersprüchen, auf die stößt, wer sich mit Abraham David Christian beschäftigt, gehört dieser: Den Menschen, der am liebsten in seinem Werk verschwinden würde, möchte man gern näher kennen lernen. Zu neugierig machen die Rätsel, die seine Werke und seine Biografie aufgeben.

Die Bochumer Ausstellung heißt „Erde“, weil sie zwar auch Graphit-Zeichnungen und Eisenskulpturen zeigt, aber vor allem Lehmarbeiten, die durch eine sehr körperliche Begegnung mit dem Material entstanden sind, das fast überall und umsonst verfügbar ist – und in das eines Tages jeder Mensch zurückgeht. Als Abraham David Christian 1969 anfing, schöpferisch tätig zu werden, formte er eine Kugel aus Lehm, formte die Kugel nach, auf der er lebt. Dann legte er sich auf die Erde, kroch über sie, hielt sich in Höhlungen auf, ließ sich in sie eingraben. Harald Szeemann wurde auf ihn aufmerksam, lud ihn 19-jährig zur 5. documenta 1972 in Kassel ein. Dort isolierte er sich 30 Tage auf der Fulda-Insel und organisierte sein Leben durch Skulpturen, die ihm etwa den Weg zum Wasser zeigten.

Zum Ausstellungsschluss forderte er Joseph Beuys zu einem legendären Boxkampf – und sagte später darüber: „Ich bin überhaupt nicht kämpferisch. In einem solchen Zeitalter, in dem wir leben, in dem der Mensch angelegt ist auf tatsächliche Freiheit, muss dieser Kampf natürlich anders sein als jemals in der Geschichte. Er muss sich ganz ins Innere verlegen, muss ein Kampf der Ideen, des Geistes sein. Jeder andere Kampf ist ein sinnloser Kampf.“ Der Boxkampf habe symbolisch nichts anderes ausdrücken sollen als einen Kampf für direkte Demokratie und eine humane Zukunft.

Nach Einladungen zu weiteren documentas, einer Einzelausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle mit 21 Jahren und einer Episode als jüngster Dozent der dortigen Kunstakademie begann er irgendwann aktiv, an seinem Verschwinden zu arbeiten. Er wollte sein Porträt nicht mehr abgedruckt sehen, verzichtete in Ausstellungskatalogen auf die Nennung seines Namens. Sein „Selbst“ war eine Arbeit aus dem Jahr 1978, die das Kunstmuseum Bochum heute in seinem Archiv längst beschädigt und für immer verloren glaubte. „Das kann gar nicht sein“, sagte der Künstler bei einem Treffen mit Museumsleiter Hans Günter Golinski, und jetzt stehen sie da, die aufeinander gestapelten Lehmblöcke mit archaischer Wirkung.

Wie eine Art Ur-Baumaterial wirken sie im weiten Saal, versehen mit wie zufällig entstandenen Spuren des menschlichen Körpers, der das Material geformt hat, das sie eine Zeit lang speichert. Wer an der Präsentation von Kunstwerken im Weißraum zweifelt, wird hier noch einmal von dieser klassischen Art der Ausstellung überzeugt: Nur so, von nichts abgelenkt, kann sich der Blick versenken in ein Ding, das er überall woanders bloß unaufmerksam streifen würde. Er versenkt sich in ein Nachdenken über die Handlungen, die das Verhältnis des Menschen zur Natur geprägt haben, durch die er sich seine Welt geschaffen hat.

Wenn Abraham David Christian gerade nicht im japanischen Hayama in seinem traditionellen Haus mit einem riesigen Garten lebt oder in Manhattan, wo er in der Upper West Side Wege für Gehmeditationen kennt, auf denen ihm stundenlang niemand begegnet, dann bewohnt er eine bemerkenswerte Stadtwohnung in seinem Geburtsort Düsseldorf. Die Wohnung ist eine Spezialanfertigung, ein Weißraum wie ein Museum, klar fokussiert auf wenige Möbel. In der Wohnküche steht einzig eine einfache, graue Sitz- oder Liegebank, auf der der Künstler in den frühesten Morgenstunden vor der weißen Wand sitzt und sich auf seinen Atem konzentriert.

Irgendwann begann er aktiv, an seinem Verschwinden zu arbeiten

Warum war es so einfach, in die Wohnung des angeblich doch so öffentlichkeitsscheuen Mannes eingeladen zu werden? „Die taz ist doch eine linke Tageszeitung?“, fragt er, kurz nachdem er im Flur darum gebeten hat, die Schuhe auszuziehen, und ein Glas Wasser einschenkt. Dann erzählt er, wie er als junger Mensch auf den Spuren Maos, dessen „Bibel“ er in der deutschen Erstausgabe besitzt, nach China ging und als an Shintoismus und Buddhismus interessierter Kosmopolit zurückkehrte. „Ich bin dem Weg des Buddhismus gefolgt“, sagt er, „ich habe gelernt, wie sich die Kulturen begegnen und transformieren, wie alles miteinander verbunden ist.“

Abraham David Christian selbst ist das beste Beispiel für die Begegnung der Kulturen, für die Verbindung von scheinbaren Gegensätzen. In den USA hat er Wahlkampf für Barack Obama und Bernie Sanders gemacht, in Deutschland unterstützt er die jungen Aktivist*innen von Fridays for Future, erzählt aber auch, wie gern er seinen alten Mercedes mit Klappdach fährt: „Ich bin die Generation Automobil.“ In seinem äußeren Auftreten wirkt er mit Hemd, Sakko und Stoffhose in gedeckten Farben und getönten Haaren fast spießig, beamtisch korrekt – und tatsächlich ist er als Hochschullehrer auf Lebenszeit an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim ja auch deutscher Beamter. Aber in seinen Worten und Gedanken, in dem, was aus seinem Inneren nach außen dringt, ist er ganz buddhistischer Lehrmeister.

Die Antwort auf die Frage, was diesen Menschen im Kern beschäftigt, sind gesammelte Dinge, fragmentarische Sätze und Gesten: Zwei Fäuste gegeneinander, weil er immer wissen wollte, warum Menschen kämpfen, Kriege führen, und dafür die Spannungen in sich selbst ausgelotet hat. Dieser Satz: „Ich möchte glücklich sterben und möglichst wenig andere Menschen belästigt haben.“ Das kleine Skulpturenkabinett hinter der weißen Tür ohne Klinke: Neben den eigenen, aktuellen Eisenskulpturen, die er nach Scherenschnitten gießen lässt und die organisch nach oben zu wachsen scheinen, stehen Buddhas, die er in Birma erworben oder im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet vor der Zerstörung durch die Taliban gerettet hat.

„Ich weiß nicht genau, aus welchen Jahrhunderten sie stammen und wer sie gemacht hat“, sagt er. Und hofft, dass es den Menschen mit seinen Skulpturen irgendwann ähnlich geht, die er gern mit einem Zitat von Nam June Paik in die Gießerei gibt: „When too perfect lieber Gott böse.“

Bis 4. Oktober, Kunstmuseum Bochum, www.kunstmuseumbochum.de

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