„Sündenfall der BRD“

VORTRAG Vor dem 20. Jahrestag wird an die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen erinnert

■ 35, benutzt ein Pseudonym, lebt in Berlin und ist Referentin des bundesweiten Netzwerkes „Rassismus tötet!“

taz: Frau Michel, in Bremen gab es vor Kurzem einen rassistischen Brandanschlag. Was hat sich seit den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen verändert?

Louise Michel: Die Politiker haben aus den 90ern gelernt, nicht den Opfern ihr Mitgefühl auszudrücken und gleichzeitig eine Verschärfung der Asylpolitik zu fordern. Das trennt man heute, 1992 war das anders.

An 1992 können sich viele nicht mehr genau erinnern.

Vom 22. bis 26. August 1992 haben im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen Neonazis und AnwohnerInnen ein Wohnheim von AsylbewerberInnen und von vietnamesischen ArbeiterInnen eingeschmissen und angezündet, ein Mob von bis zu 3.000 Menschen. Die Polizei hat zuerst direkte Angriffe verhindert, ist aber nicht gegen die Angreifer vorgegangen, sie war unterbesetzt. Am Abend des 24. August fand der Sündenfall der BRD statt: Das Gewaltmonopol wurde an den Mob abgegeben. Dahinter stand eine politische Weichenstellung für die heutige Einwanderungspolitik, die praktische Abschaffung des Asylrechts.

Wie kann man das an diesem einen Ereignis festmachen?

Das Pogrom von Rostock war eingebettet in eine Debatte gegen sogenannte Scheinasylanten: Es gab danach keine Spur von Empathie gegenüber den Opfern, stattdessen folgerten Politiker, dass das deutsche Volk durch den „Zustrom der Asylanten“ überfordert sei und forderten eine restriktivere Regelung der Asylgesetzgebung. Die wurde Ende 1992 von Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP mit den Stimmen der SPD beschlossen.

Wie kann man erklären, dass so viele RostockerInnen den Brandstiftern applaudierten?

Die Stimmungsmache gegen die „Asylanten“ lief in Westdeutschland schon länger. Die Dynamik aber war nicht so heftig, die Zivilgesellschaft ging sehr kritisch mit Nationalismus um. Das änderte sich mit der Wiedervereinigung, es gab ein Wir-Gefühl und danach die Ernüchterung. Die Problematik der deutsch-deutschen Integration lenkte sich auf die Flüchtlinge, sie wurden für vogelfrei erklärt.

Durch Hetze in den Boulevard-Medien?

Nicht nur. Der Spiegel hat die Symbolik vom „vollen Boot“ eingeführt. Die bürgerliche Mitte wurde aufgehetzt. Deswegen wurde der rassistische Mob auch in den Medien wenig aufgearbeitet: weil die eigene Rolle hätte hinterfragt werden müssen. Stattdessen machte man die Jammer-Ossis verantwortlich, es wurde das Durchgreifen des Staates gefordert.

Was sollte sonst passieren?

Man sollte Rechtsterrorismus mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat hat, zerschlagen – und Rassismus breit in der Bevölkerung thematisieren. Da könnte Rostock die Schlüsselstellung einnehmen, die Ereignisse sollten in die Geschichtsschreibung aufgenommen werden und Teil des Schulunterrichts werden. Interview: JPB

20 Uhr, DGB-Haus, Bahnhofsplatz