berliner szenen: Das weiß er manchmal selbst nicht
Ich laufe mit meiner Yogamatte durch betulich stille Straßen in Lichterfelde. Meine Freundin Derya und ich haben anderthalb Stunden digitales Yoga in ihrer Küche hinter uns, danach ein Glas Wein auf der Matte getrunken, und jetzt fühle ich mich, als würde ich gleich zusammenbrechen oder anfangen zu schweben. So ganz entschieden habe ich mich noch nicht. Ich bestaune die Pflanzen in den Villengärten. Dort stehen die gleichen Büsche und Kräuter wie auf meinem Balkon, nur sind diese hier viermal so groß.
Vor dem Zaun einer Backsteinvilla entdecke ich die alte Frau mit den weißen Locken, die ich oft treffe, wenn ich Derya besuchen gehe. Inzwischen grüßen wir uns. Einmal fragte sie nach einem Fotoladen und zeigte mir einen alten Apparat: „Sehen Sie, ich brauche neue Batterien.“ Ich konnte ihr leider nicht helfen, aber das schien sie wenig zu kümmern.
Ein anderes Mal fragte sie, ob ich wisse, wo Willi bleibe. „Leider nein“, entgegnete ich und fragte, wer denn Willi sei. Sie machte eine abfällige Geste: „Das weiß er manchmal selbst nicht.“
„Oh“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein, aber ich habe noch lange überlegt, warum Willi nicht weiß, wer er ist.
Jetzt schneidet sie mit einer Gartenschere Zweige in einen Eimer. Als ich näher komme, grüßt sie fröhlich und erklärt: „Ich schneide Kochsträuße.“ Ich bleibe stehen und wiederhole matt: „Kochsträuße?“ Sie bückt sich, legt die Gartenschere auf die Erde und bindet ein paar Zweige Salbei, Rosmarin und Lavendel mit einem Gummiband zusammen: „Der ist für Sie.“
Ich freue und bedanke mich, aber als ich weitergehe, höre ich nach ein paar Metern eine wütende weibliche Stimme: „Was fällt Ihnen ein, meine Kräuter abzuschneiden?“ Ich drehe mich um. Die alte Frau läuft mit dem Eimer die Straße herunter, als wäre nichts geschehen.
Isobel Markus
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen