berliner szenen: Kommt wegen dem Giftblatt
Ich stehe mit meinem Sohn an der Kasse in einem Supermarkt mit viel Auswahl. Wir haben Unmengen eingekauft, weil wir unser halbjährliches Zeugnisessen diesmal zu Hause machen wollen. Die Kinder haben sich Wraps gewünscht und da benötigt man viel Füllstoff. Außerdem ist Sommer im Obstregal. Wir haben also alles in den Wagen gelegt, auf das wir Lust hatten, und nun kullern Stachelbeeren und Aprikosen, Pfirsiche und Johannisbeeren das Band herunter.
Während die Kassiererin die Melone auf den Scanner hebt, sagt sie mit dem Blick auf die Kasse: „Na, dit wird wohl 'n Obstsalat, wa?“ Ich antworte: „Offenbar ein echt großer.“ Sie sagt: „Wie für die Affen im Zoo.“ Mein Sohn und ich lachen zu laut.
Eine Kasse weiter tritt ein Junge mit seinem über Mund und Nase gezogenen T-Shirt heran und sagt: „Hallo, ich bin wegen dem Zeugnis da.“ Die andere Kassiererin ruft: „Karin, wegen dem Giftblatt.“ Sie grinst.
Unsere Kassiererin beugt sich herunter und holt ein etwas ramponiertes, in der Mitte gefaltetes Zeugnis unter der Kasse hervor, dreht sich um und reicht es dem Jungen mit den Worten: „Wolltst es wohl loswerden, wa?“
Der Junge zuckt mit den Achseln. „Wär schön gewesen.“
„Keine Sorge, hab’s nicht angeguckt. Wird schon werden“, sagt sie und wendet sich wieder der Melone zu. Der Junge trollt sich mit eingezogenen Schultern. „Nanu, wie war das denn?“, frage ich neugierig, und die Kassiererin sagt: „Hat er hier liegen lassen, und ein Kunde hat es zu mir gebracht. Da ham wa die Schule angerufen.“ Sie kullert die Melone zu mir: „Hab’s natürlich doch angeguckt.“ Sie zieht die Mundwinkel in die Breite. „Das Bürschchen hat heute bestimmt noch Palaver zu Hause. Aber da kannste nix machen. So’n Zeugnis is wie’n Bumerang. Dit kommt immer wieder zurück.“
Isobel Markus
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