Alle gegen alle

Der Politologe Philip Manow hat ein tiefschürfendes demokratietheoretisches Gedankenfeuer über die Gefährdung der Demokratie vorgelegt

Die EU in ihrer jetzigen Form generiert laut Manow ein Demokratiedefizit Foto: Francisco Seco/ap

Von Tom Wohlfarth

Durch diverse Krisen – erst Klima, dann Corona – ist ein Phänomen zeitweise in den Hintergrund gerückt, das zuvor mehrere Jahre die Debatten beherrscht hatte: die Krise der Demokratie. Genauer: ihre Bedrohung durch (vor allem rechte) Populisten, Nationalisten, Autoritäre. Da aber auch diese Krise fern von gelöst ist, tut es not, sie immer mal wieder ins Gedächtnis zu rufen und weiterhin an ihrem besseren Verständnis und an ihrer Lösung zu arbeiten.

Einmal mehr macht sich darum der Bremer Politologe Philip Manow verdient, der sich erneut als einer der großen Stilisten seiner Zunft erweist. Nachdem er 2018 mit seiner „Politischen Ökonomie des Populismus“ einiges Licht auf dessen oftmals geografisch determinierte Unterscheidungen in Rechts- und Linkspopulismus geworfen hatte, legt er nun mit einer weiter ausgreifenden „politischen Theorie des Populismus“ nach.

Damals hatte Manow populistischen Protest von seinem (ökonomischen) Anlass her als Reaktion auf zwei Formen der Globalisierung (von Geld und Gütern oder von Personen) in links und rechts unterteilt. Nun lässt er in der tieferen (politischen) Ursache des Populismus zwei gegenläufige Prozesse zusammenfallen: Demokratisierung und Entdemokratisierung der Demokratie. Denn im Populismus kann man ja beides sehen: sowohl eine „Gefährdung der Demokratie etwa durch Nationalismus“ als auch eine „Reaktion auf die Gefährdung der Demokratie etwa durch Denationalisierung“. Manow spannt beide Perspektiven in einen größeren historischen Rahmen.

Die erste korrigiert zunächst einmal die Rede von einer „Krise der Demokratie“, die letztlich vor allem eine Krise der Repräsentation sei, hervorgerufen nicht zuletzt durch die massive Ausweitung politischer Partizipationschancen in den vergangenen Jahrzehnten (und Jahrhunderten): eine umfassende Demokratisierung der Demokratie.

Philip Manow: „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“. Suhrkamp, Berlin 2020, 160 Seiten, 16 Euro

Manow beleuchtet hier auch einen blinden Fleck neuzeitlicher Demokratien, die etwa in der Amerikanischen und der Französischen Revolution keineswegs als (partizipative oder auch nur inklusive) Demokratie konzipiert worden sei (worauf zuletzt bereits der Historiker David Van Reybrouck hingewiesen hat), sondern im Gegenteil als republikanisch-repräsentatives System umfassender Ausschlussmechanismen. Das abstrakte Volk als „people“ wird zwar zum „transzendentalen“ Legitimationsprinzip der neuen Herrschaft, das konkrete Volk als „Pöbel“ aber wird von dieser Herrschaft, die doch eigentlich eine Selbstherrschaft sein sollte, ferngehalten.

Dieses noch offensichtlich aristokratisch geprägte System der Repräsentation aber geriet durch die zunehmende Ausweitung des aktiven und passiven Wahlrechts und andere Demokratisierungsprozesse unter Druck. Besonders deutlich wird diese Dekonstruktion der repräsentativen Demokratie aktuell an der Demokratisierung eines ihrer wichtigsten Elemente, der Parteien. An den Beispielen Corbyn, Trump und Macron zeigt Manow, wie der Kontrollverlust der Parteien über die Auswahl ihres Personals die Funktionsweisen des parlamentarischen Systems ins Wanken bringt.

Doch dieser zwiespältige Siegeszug der „Demokratie“ – Skeptiker würden sagen: des „Populismus“ (ob links, rechts oder Mitte) – führt auch dazu, dass die „Demokratie“ nun in Ermangelung eines explizit antidemokratischen Außen offiziell keine Gegner mehr hat – außer sich selbst. Dadurch werde aber zugleich der Streit innerhalb der Demokratie zu einem Streit über die Demokratie – und die einst demokratischen Gegner (wieder) zu Feinden, die nicht anders können, als sich ständig gegenseitig vorzuwerfen, in Wahrheit Feinde der Demokratie zu sein.

Manow beleuchtet hier auch einen blinden Fleck

Diese im Zuge ihrer Demokratisierung zugleich entstehende Entdemokratisierung der Demokratie besteht also nicht zuletzt in einer „Demokratiegefährdung durch Demokratiegefährdungsdiskurse“. „Aber müssten wir nicht gerade mit den Gegnern der Demokratie so reden, als wären sie keine?“

Stattdessen sei es diese Verwandlung eines ursprünglich äußeren Gegners in einen inneren, die von innen dem Zerfall der Staatlichkeit entspricht, der nach außen in Form einer zunehmenden Supra-, also Entnationalisierung betrieben werde. Doch bei allem wahrlich brillanten Gedankenfeuer ist Manows Argumentation an dieser Stelle etwas zu apodiktisch geraten.

Es ist ja unbestritten, dass etwa die Europäische Union in ihrer jetzigen Form „nicht nur ein Demokratiedefizit [hat], sondern generiert“. Auch mag es sein, dass für den Moment die wankenden Nationalstaaten den wirksamsten Schutz gegen ein global agierendes Kapital bieten könnten – Manow bringt die heuchlerische Haltung einer „liberalen Mitte“, die die Demokratie genau so lange hochhält, wie ihr nicht eine andere Regierungsform „ungefähr dasselbe“ anbietet, in aller Schärfe auf den Punkt. Dass aber die letztlich ebenso wenig wie das „Volk“ oder die „Nation“ essentialistisch zu bestimmende Fiktion der „Staatsbürgerschaft“ nur noch auf der Ebene der tradierten Nationalstaaten überhaupt funktionieren kann, wie Manow behauptet, und nicht etwa auf der einer – freilich erst noch demokratisch zu schaffenden – europäischen Republik oder gar eines „Weltstaates“, für den dann eben die extraterrestrische Welt die „konstitutive Außenseite“ abgeben müsste, – darüber hätte man dann doch gerne noch etwas ausführlichere Begründungen als pointierte Thesen gehört.