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Den Buchstaben feiern

Bulgarien ist die Wiege des kyrillischen Alphabets. Von dort kommt ein Kunstwerk aus hölzernen Buchstaben, das zum Sitzen und Gedichte-Lesen im James-Simon-Park einlädt

Von Barbara Oertel

Als der Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union am 1. Januar 2007 näherrückte, wurden die Verantwortlichen in Sofia immer wieder mit derselben Frage behelligt: Was denn der Balkanstaat wohl in die Gemeinschaft einbringen könne? Die Antwort war stets die gleiche: vor allem eine reiche Geschichte sowie eine nicht minder reiche und mannigfaltige Kultur.

Heute, mehr als 13 Jahre später, ist leider zu konstatieren, dass mit dem „Kulturexport“ einiges schiefgelaufen ist. Denn es sind zuallererst ausgebeutete Billiglöhner*innen in Schlachthöfen und auf Baustellen oder zeltende Roma, die das Bild vieler Deutscher prägen – so sie denn überhaupt etwas mit Bulgarien verbinden.

Bei so viel Ignoranz muss sich ein Land – noch dazu an der Peripherie Europas – schon einiges einfallen lassen. Frei nach dem etwas abgewandelten Motto der Brüder Grimm: Von einem, der auszog, die Welt etwas zu lehren.

Ergo hat sich Bulgarien auf den Weg gemacht und das gleich mit einigen Lastwagen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist seit der vergangenen Woche in Berlin zu besichtigen, genauer gesagt im James-Simon-Park mit Blick auf die Spree, die Museumsinsel und den Berliner Dom. Hier reihen sich elf hölzerne, verschiedenfarbige Sitzmöbel aneinander. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich ihre Formen als Abbild von 14 kyrillischen Buchstaben, die weder im lateinischen noch im griechischen Alphabet grafische Entsprechungen haben.

Wohl nur wenige wissen, dass die kyrillische Schrift heutzutage von über 300 Millionen Menschen in mehr als zehn Ländern verwendet wird. Eins davon ist Bulgarien. Aber das ist noch nicht alles. Bulgarien ist auch die Wiege des kyrillischen Alphabets. Schüler der beiden Slawenapostel Kyrill und Method, die im Zentrum von Sofia auf einem Sockel in Stein verewigt sind, entwickelten die Schrift im 10. Jahrhundert.

Doch nur die nackten Buchstaben zu präsentieren wäre denn doch zu wenig. Auf jeder Bank liegt daher eine Art ­Gebrauchsanweisung, die über die Installation „Bulgarische Buchstaben in Berlin 2020“ informiert. Dazu gibt es Gedichte von 28 bulgarischen Dichter*innen in deutscher, englischer und französischer Übersetzung.

Eine junge Frau sitzt auf der Bank mit dem Buchstaben Яund lässt die Poesie auf sich wirken. Ihr gefällt die Idee dieses Projekts. „Es ist toll, dass es jetzt noch einen weiteren Ort gibt, wo nicht nur Berliner*innen, sondern auch Besucher*innen Literatur genießen können, noch dazu in einer so angenehmen Umgebung“, sagt sie. Als Ukrai­nerin, die auf der Krim geboren und aufgewachsen ist und jetzt in Berlin studiert, hat sie so ihre eigenen Erfahrungen mit der babylonischen Sprachverwirrung gemacht. So muss sie immer mal wieder erklären, dass Ukrainisch kein Dialekt des Russischen, sondern eine eigene Sprache ist.

Im Jahr 2018, anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft Bulgariens, wurde das Projekt „Verborgene Buchstaben“ von einem dreiköpfigen Team unter der Ägide der Stiftung „Sofia Reading Foundation“ realisiert. Das Ziel war es, literarische Orte im urbanen Raum zu schaffen. Der erste Testlauf fand in Sofia statt, wo die Bänke in Parks und auf Grünflächen aufgestellt wurden. Ein Jahr später gingen Я, Ч, И und ihre Geschwister erstmals auf Wanderschaft, und zwar nach Paris, an das Ufer der Seine. Vor wenigen Wochen zog die Buchstabenkarawane weiter – nächster Halt Berlin.

Sofia versteht die temporäre Leihgabe als einen Gruß an Deutschland, das am 1. Juli die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt – ein Posten, der angesichts von Corona und anderen Krisen auch schon mal attraktiver war.

Maßgeblich mit dazu beigetragen, diese Geschenkidee Wirklichkeit werden zu lassen, hat Borislav Petranov, Leiter des Bulgarischen Kulturinstituts in Berlin und Botschaftsrat für Kultur an der Bulgarischen Botschaft. „Das war ein hartes Stück Arbeit. Aber dank dieser Installation können wir ein anderes Bulgarien zeigen und Neugier auf die Kultur des Landes wecken“, sagt Petranov.

Zu erlesen im James-Simon-Park ist auch der Schriftsteller Georgi Gospodinov. Da einige seiner Werke wie „Natürlicher Roman“ oder „Physik der Schwermut“ ins Deutsche übersetzt sind, ist er, anders als viele seiner Kolleg*innen, hierzulande kein Unbekannter mehr.

„Mein liebster Feiertag ist der 24. Mai, der Tag, an dem wir die Kyrilliza feiern. Wir feiern keinen Krieg, keine Schlacht, keinen Sieg und keine Niederlage. Wir feiern etwas so Zartes und Alltägliches wie Buchstaben und Sprachen“, sagt er auf die Frage, warum er sich an dem Projekt beteiligt habe. „Die Sprache ist ein alltägliches Ereignis. Und alle diejenigen, die sich zu einem Buchstaben setzen und ein Gedicht lesen, feiern das Wunder der Sprache. Das alltägliche Wunder der Sprache.“

Mit Alltäglichkeiten muss sich auch Petranov beschäftigen, allerdings geht es dabei alles andere als literarisch zu. Fast täglich sieht er im James-Simon-Park nach dem Rechten. Und schon mehrmals hat er Müll entsorgt, den Besucher*innen in dem Rund der Installation zurückgelassen hatten. „Das ist eben Kunst im öffentlichen Raum, immer auch ein Risiko“, sagt er. Doch das ist es wohl wert.

Die Installation kann bis 30. September besucht werden

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