Chor der wütenden jungen Frauen

Kulturaustausch auf digitaler Bühne: Das Festival „Radar Ost digital“ des Deutschen Theaters in Berlin

Von Katja Kollmann

Der Weg vom Deutschen Theater in Berlin zum Royal District Theatre in Tiflis ist kurz: Verlasse den Zuschauerraum des Deutschen Theaters durch die vorderste Tür auf der linken Seite. Dann stehst du vor der Bühne des georgischen Theaters. Ich stehe allein dort und erinnere mich an die Inszenierungen des Royal District Theatre, die ich im Deutschen Theater gesehen habe. Ich stelle mir sie jetzt vor. In diesem Raum. Neugierig schaue ich zur Decke in dieser digitalen Begehung des georgischen Theaters. Holzbalken. Schaue zur Seite. Unverputzter Backstein. Und drücke auf den gelben Punkt an meinem Laptop. Nikolo Ghviniashvili stellt sich vor. Man hört nur seine Stimme. Warme georgische Laute erfüllen den Raum. Auf der Bühne, die ich im Laptop sehe, steht nur die Berliner Künstlerin Gérômine Castell. Sie übersetzt. Ghviniashvili erzählt von seinem Auto, das jeden Tag voll mit vollgepackten Tüten ist, und der Hektik beim Ausliefern der Nahrungsmittel. Wegen der Ausgangssperre ab 21 Uhr. Corona-Alltag eines Transmannes in Georgien, der Transfrauen mit Essen versorgt. Castell, selbst Transfrau, übersetzt: „Stellen Sie sich eine Welt vor, in der sie nur dann Aufmerksamkeit und Mitgefühl erhalten, wenn sie sich mit Benzin übergießen und anzünden.“ Und Ghviniashvili erinnert an den 1. Mai 2020, als sich Madonna vor dem Tifliser Rathaus mit Benzin übergoß. Sie war 19.

Durch das Haus navigieren

Zehn Minuten dauert „In dritter Person“. Data Tavadze, der Leiter des Royal District Theatre, hat das Format mit einem kleinen Team in Tiflis entwickelt. Castell steht in einem in Berlin entwickelten virtuellen Thea­ter­­raum. Für das in diesem Jahr digitale Festival „Radar Ost digital“ wurde fast das ganze Gebäude des Deutschen Theaters ins Netz übertragen – und zusätzlich das befreundete Theater im Kaukasus. Drei Tage lang, von Freitag bis Sonntag, konnte man im ganzen Haus umhernavigieren und traf immer wieder auf „Theater“. Die Ästhetik des virtuellen Theaterhauses erinnerte dabei an Edvard Munch, dem das Haus durch den von ihm geschaffenen Reinhardt-Fries verbunden ist.

Birgit Lengers, die Kuratorin des Festivals Radar Ost, hat drei komplette Inszenierungen eingeladen, aus Moskau, Novosibirsk und Gniezno in Westpolen. Weitere Gastspiele aus Tschechien, Ungarn, Russland und der Ukraine bekamen ein spezielles digitales Format. Und drei mal wird frisch kooperiert. Mit dem Moskauer Gogol Center, dem ukrainischen Frauenkollektiv TseSho und dem Royal District Theatre.

Auffällig viele junge Künstlerinnen kommen zu Wort, so die Dramatikerin Olga Shilayeva, die es mit ihrem Stück „28 Tage“ bis zu dem renommiertesten aller russischen Theaterfestivals geschafft hat: der goldenen Maske. In der digitalen Zuschauergarderobe des DT sieht man nun eine gekürzte Fassung der „28 Tage“. Ein Mann, eine Frau und ein Chor wütender junger Frauen. Sprechgesang rund um das Thema PMS, Menstruation und alles, was da noch so dranhängt, ironiegesättigt und doch bitterernst gemeint.

Die Autorin Natalia Vorozhbit hat im ostukrainischen Kriegsgebiet recherchiert. Das digitale Format von „Bad Roads“ dauert rund 12 Minuten. Oksana Cherkashyna, die im Stück eine Journalistin im Kriegsgebiet spielt, geht mit dem iPad, auf dem „Bad Roads“ gezeigt wird, durch ein ukrainisches Dorf. Sie stellt das Gerät auf den Weg, auf die Schaukel und ins Regal mit den Müsliriegeln. Das ist wie ein Spiel mit unendlichen Spiegelungen. Sie bringt so den Krieg – verhandelt in der Kunst – überallhin. Zuerst war „Bad Roads“ eine Inszenierung des Kiewer „Left Bank Theatre“. „Soll das Theater ein Ort der Ruhe vor der harten Realität sein?“, fragt Pavlo Arie, der Chefdramaturg des Theaters, rhetorisch-ironisch in der Lecture „Die Zerbrechlichkeit der Zivilisation“.

Das albanische Nationaltheater in Tirana wurde am 17. Mai 2020 abgerissen. Auf dem Vorplatz des digitalen DT ist ein Video zu sehen von der Nacht, als Polizisten in den Thea­terbau eindrangen und die BesetzerInnen heraustrugen. Zwei Jahre lang hatte die Zivilgesellschaft gegen den aus Profitgier der Regierung erfolgten Abriss gekämpft. Fassungslos sahen die Menschen in der Nacht zu, wie Bulldozer in 45 Minuten die Fassade des Gebäudes zerstören.

In Tirana hat man den Menschen ihr Theater für immer genommen, die Pandemie macht weltweit Theater zu unbehausten Orten. Das virtuelle DT hat es geschafft, das Thea­ter wieder zu verorten. Denn diese Kunstform, obwohl sie immer und überall stattfinden kann, braucht eben doch einen geschützten Ort. Albanien hat keinen mehr.