zwischen den rillen
: Parkplätze der Leidenschaften

Was würde wohl R. Kelly von Jamie Lidell halten? Beide Soulsänger haben neue Alben herausgebracht

Wahre Perfektion zeigt sich immer in den Details. Nicht dass „Trapped In The Closet Chapter 1 – 5“, das Herzstück von R. Kellys neuem Album „TP.3 Reloaded“, nicht schon von Konzeption und Anlage her ein vollendetes Stück Großpop wäre, wie nur je ein R.-Kelly-Song. Man stelle sich eine fünfteilige Miniserie vor, aufgebaut nach dem Soap-Opera-Prinzip, fünf zusammengehörige Videoclips, die eine fortlaufende Geschichte erzählen. Ein Mann muss aus dem Bett seiner Affäre in den Kleiderschrank fliehen, weil ihr Gatte nach Hause kommt, das Klingeln seines Handys verrät ihn – von wo aus die Dinge ihren Lauf nehmen: ein schwuler Pastor, ein rauchender Polizist und mehrere berechnende Ehefrauen bilden das Personal dieser Soul Opera, die so großartig wie gaga ist.

Doch wie Kelly diese Geschichte erzählt, sie in jedem Teil auf einen dramatischen Climax zulaufen lässt, wie er die Rasanz der Dialoge dadurch betont, einzelne Sätze seiner Gesangslinien so anzuschneiden, dass der eine Satz schon beginnt, bevor der andere beendet ist – gerade weil hier alles stimmt, wirft man sich dieser Schmierlappigkeit so gerne an den Hals.

„TP-3 Reloaded“ ist der dritte Teil von R. Kellys Sex-Werkreihe („Twelve Play“ kam 1993 heraus, „TP-2.com“ 2002) und hält sich eng an die thematischen Vorgaben der Vorgängeralben. Sex mit der besten Freundin der Freundin („Kickin’ It With Your Girlfriend“), Sex in der Küche („In The Kitchen“), Sex bis zum nächsten Morgen („Hit It Til The Morning“), bekiffter Sex („Sex Weed“), Sex auf Jamaika („Slow Wind“, das einzig wirklich schwache Stück übrigens, Reggae scheint R. Kelly nicht zu liegen).

Es dürfte kaum einen Künstler geben, der mit einer solchen Mischung aus konzeptueller Strenge und hemmungsloser Albernheit, bedingungslosen Sich-selbst-ernst-Nehmen und Freude an der permanenten Verkleidung einen so durchschlagenden Erfolg hat wie R. Kelly. Als lebender Beweis quasi, dass der größte und großartigste Quatsch sich immer noch im Zentrum der Aufmerksamkeit finden lässt. Dort, wo der Genuss ohne Reue stattfindet: an der Spitze der Charts.

Und in diesem Gefühl treffen sich R. Kelly und Jamie Lidell. Denn anders lässt sich auch der durchschlagende Erfolg von Jamie Lidells „Multiply“ als eine der Platten dieses Sommers nicht erklären. Gewiss, es ist eine so gelungene wie ausgefallene Soulplatte ganz eigener Bauart, die Lidell da eingespielt hat, und sie hat wenig bis gar nichts mit dem zu tun, wofür er bisher bekannt war – mit dem Technoproduzenten Christian Vogel zusammen unter dem Namen Supercollider kranken Funk einzuspielen etwa. Hört man sie das erste Mal, ohne zu wissen, womit man es zu tun hat, glaubt man, irgendwelchen Al-Green-Outtakes aus den späten Sechzigern zu lauschen, bevor der Produzent Willie Mitchell ihm den schweren Samt unter die Stimme legte. Oder Aufnahmen eines uneheliche Sohns von Otis Redding. Oder irgendwelche dieser sagenumwobenen unveröffentlichten Prince-Stücke aus den frühen Achtzigern (Terence Trent D’Arby also).

Doch das Erstaunliche dieser wunderbaren Platte ist gar nicht so sehr ihre schiere Existenz – es ist ihre Rezeption. Ihren Erfolg verdankt sie nämlich vor allem Leuten, die sonst wenig bis nichts mit Soul am Hut haben, die sich an der Musik orientieren, die sonst auf Warp Records erscheint, dem Label, bei dem Lidell untergekommen ist. Indierocker und Electronicahörer also. Weiße Jungs, die sich ansonsten mit den strengen Gesetzen des Schrammelgitarrensounds oder des Laptoptechno unterwerfen. Bei Lidells hemmungslosen Soulvocals, der gnadenlosen Emphase seiner Melodieführung, dem der Intensität, mit der er sich in die Intensität seines Gesangs hineinsteigert – was einem noch stärker auffällt, wenn man ihn einmal live gesehen hat, wo er alle Rücksichten fallen lässt und sich tatsächlich die Seele aus dem Leib singt – können sie anscheinend Gefühle unterbringen, für die in ihren sonstigen Hörgewohnheiten kein Platz ist.

Interessant wäre dabei tatsächlich zu erfahren, was wohl R. Kelly von Jamie Lidell halten würde. Ob er ihn tatsächlich als Blue-Eyed-Soul-Sänger wahr- und ernst nehmen würde. Was für eine Art von Produktion ihm wohl für Lidells Stimme vorschweben oder ob er ihn mit einem Achselzucken abtun würde. Ob er diese Freude an der Intensität von Lidells Stimme gleich unbeschwert wahrnehmen könnte oder ob er in einem fort den Regelverstoß hören müsste. Joss Stone etwa, die britische great white hope des Neosoul mit ganz erstaunlichem Erfolg in den Vereinigten Staate, wird ja bevorzugt von weißen Kritikern der mangelnden Authentizität bezichtigt. Gerade vergangene Woche war es Patti LaBelle, die sie gegen diese Vorwürfe in Schutz nahm.

TOBIAS RAPP

R. Kelly: „TP-3 Reloaded“ (Zomba/Jive). Jamie Lidell: „Multiply“ (Warp/Rough Trade)