: Die FDP ist ihrer Zeit voraus
Glaubt man seinen Gegnern, regiert der Neoliberalismus in Deutschland. Den Liberalen gibt das allerdings keinen Auftrieb, weil sie seine inneren Widersprüche nicht verstehen
Fragt man einen der Sympathie für die FDP unverdächtigen Zeitgenossen wie Oskar Lafontaine nach der geistigen Situation unserer Zeit, so wird er keine zwei Gedankengänge brauchen, um beim „herrschenden neoliberalen Diskurs“ als Kern allen gesellschaftlichen Übels zu landen. Dem Neoliberalismus seien die im Bundestag vertretenen Parteien ebenso erlegen wie sich die einschlägigen Wissenschaften von ihm haben blenden lassen. Bei so viel zugestandener Machtfülle der Ideologie wundert es schon, dass ihr klarster Protagonist unter den Parteien so wenig daran teilhaftig wird. Dieser Umstand muss die Freien Demokraten umso mehr irritieren, als keine andere Partei über so viel Regierungserfahrung verfügt, wie sie.
Wer sich einen Reim auf diese Misere der FDP machen will, der werfe einen kurzen Blick zurück auf die letzte Bundestagswahl. Damals hatte auch sie noch einen Kanzlerkandidaten. Guido Westerwelle wollte 2002 in die erste Liga der Parteien vorstoßen und kündigte bereits vor der Wahl an, sowohl mit CDU als auch mit SPD „knallharte Verhandlungen“ aufzunehmen. Zu den Verhandlungen kam es dann aber nicht. Die Partei stürzte in die schwerste Krise seit dem Koalitionswechsel 1982. Drei Jahre später ist Guido Westerwelle nur noch Spitzenkandidat, doch das Flair des „Nichts ist unmöglich“ umgibt ihn auch heute noch, wenn er sich gleichermaßen für das Außen-, das Innen- wie wohl auch für ein Zukunftsministerium geeignet hält. Ähnliches ließe sich allerdings auch von Wolfgang Gerhardts Neigung zum Außenministerium sagen. Die Partei ist vom Spaßfaktor bereinigt, seriös ist sie deswegen noch lange nicht geworden. Dass die Führungspersönlichkeiten der FDP derzeit fest im Sattel sitzen, sagt insofern mehr über das Personaltableau der Partei als über sie selbst aus.
Als Konsequenz aus ihrem Ergebnis 2002 hat sich die FDP nun klar an die Union gebunden. Damit hat sie jedoch lediglich einer programmatischen Differenz Rechnung getragen, die bereits 2002 ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten unwahrscheinlich gemacht hätte. Die FDP hatte bereits damals ihre Rolle als Funktionspartei verloren.
Doch nichts ist so zählebig wie das Bild, das sich Wähler von Parteien machen. Die FDP gilt seit ihrem Bestehen als Partei der Mitte, doch sie befindet sich seit Längerem auf den entscheidenden Feldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik an dem äußeren Rand, der ihr in der Sitzordnung des Bundestages schon immer zugewiesen wurde. Der Verlust ihres Markenzeichens, der Verlust der Fähigkeit, mit beiden Volksparteien koalieren zu können, wird die strategischen Optionen und damit auch die Akzeptanz der FDP dramatisch verschlechtern, wenn demnächst fünf Parteien in den Bundestag einziehen sollten. Sie hat sich in die gleiche babylonische Gefangenschaft bei der CDU begeben, in der die Grünen von Beginn an bei der SPD waren.
Die strategische Selbstmarginalisierung der FDP ist der Preis einer stringent wirtschaftsliberalen Positionierung, die ihre Wirkung lediglich noch als Korrektiv in der innerparteilichen Debatte der Union entfalten kann. Und so reduziert sich die öffentliche Wahrnehmung der FDP auf ihre Einwürfe zu der von der CDU angestoßenen Steuerdebatte. Nun bestehen durchaus Überschneidungen zwischen den Milieus beider Parteien, wovon schon die erfolgreichen Zweitstimmenkampagnen in der Geschichte zeugen. Warum gelingt es also der FDP nicht, mit ihren Positionen einen größeren Teil der Unionsklientel für sich zu gewinnen?
Gerade als Partei, die einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik verpflichtet ist, hätte sie den Systemwechsel in der Finanzierung der sozialen Sicherung, den die Union mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer einleiten will, mittragen können – sofern diese nicht in den Staatshaushalt eingeht, sondern der Entlastung der Arbeitseinkommen dient. Stattdessen profiliert sie sich als reine Steuersenkungspartei, was eine für neoliberale Verhältnisse erstaunliche Ignoranz gegenüber den Problemen des Standortes verrät. Denn der leidet weniger unter hohen Steuern als vielmehr unter hohen Lohnnebenkosten.
Sowohl Union als auch FDP treten mit dem Versprechen an, den Reformkurs der Regierung Schröder zu beschleunigen, wo dieser an inneren Widerständen gescheitert ist. Diese Radikalisierung ist in der Transformation selbst angelegt. In der Vergangenheit verwies jede Veränderung auf die Notwendigkeit einer weiteren. Deshalb fällt es beiden politischen Lagern schwer, grundlegende Differenzen im Wahlkampf kenntlich zu machen.
Wo SPD und Grüne unter dem Druck einer erstarkenden Linkspartei auf Entschleunigung und Teilrevision setzen, macht sich die Union die Clement’sche Formel „Sozial ist, was Arbeit schafft“ zu eigen. Dieses Versprechen ist ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft eines Standortes, der womöglich unbeeinflussbar durch politische Steuerung nicht mehr genug Arbeit bereit halten wird. Wo die Union jedoch implizit damit das zweite Versprechen verbindet, den sozialen Zusammenhalt festigen zu wollen, sobald es die materiellen Ressourcen wieder erlauben, und dies durch ihren Charakter einer Volkspartei untermauert, orientiert die FDP das Bedürfnis nach Sicherheit wieder radikal auf das private Eigentum. Sie kennt keinen Begriff des Sozialen mehr, da sie diesen unter den Generalverdacht staatlicher Organisation gestellt hat. Jede Form kollektiver Vertretungsinstanzen ist ihr suspekt. Nun befinden diese sich zwar tatsächlich in einer Krise, doch sind sie zugleich aus einer Krise jenes Liberalismus erst hervorgegangen, der sich nun zu ihrem Überwinder aufschwingt. Erst dessen Unfähigkeit, Autonomie und Rechtsgleichheit für alle Individuen nicht nur zu proklamieren, sondern auch hervorzubringen, rief den Staat als Organisator kollektiver Sicherung auf den Plan. Seitdem wurde Fortschritt an dessen Vervollkommnung gemessen. Die Krise, in die dieser Fortschritt seinerseits führte, überwindet nur, wer die darin liegende Verheißung bewahrt, denn das Bewusstsein, dass die formale Gleichheit des Rechts alleine noch keine gleiche wechselseitige Anerkennung der Individuen bewirkt, und Sicherheit und Besitzlosigkeit einen Widerspruch bilden, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben.
Dieses Bewusstsein wird geschärft in einer Epoche, in der die Exklusion aus dem Arbeitsprozess vor gediegener Bildung, gutem Einkommen und gehobenem Status keinen Halt mehr machen. Erst wenn die Möglichkeit eines kollektiven Fortschritts sich als Illusion erweist, werden diejenigen, deren Besitz sie dazu in die Lage versetzt, vermehrt jener individuellen Strategie folgen, welche die FDP schon jetzt propagiert. Ulrich Beck hat dies einmal überspitzt Brasilianisierung genannt. Davon ist Deutschland noch ein ganzes Stück weit entfernt. Oder, anders herum gesagt, die FDP ist ihrer Zeit weit voraus – womöglich kommt sie nie. DIETER RULFF