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Etwas Dunkles

Der Fotograf Tobias Kruse war zehn Jahre alt, als die Mauer fiel. Für seine Arbeit „Deponie“ bereiste er eine ostdeutsche Gegenwart, die noch immer auf die Neunziger verweist

Dies hier ist Fiktion. Keine Reportage“, sagt Tobias Kruse. Und dennoch zeigen seine Fotografien eine reale Gegenwart, die zurückragt in eine konkrete, gar nicht mal so ferne Vergangenheit. Wie kann das sein? Für seine derzeit im Hamburger Haus der Photographie präsentierte Arbeit „Deponie“ ist Kruse hinabgestiegen in die Asservatenkammer seiner Herkunft.

Kruse ist Ostdeutscher. Fotograf, Mitglied der Agentur Ostkreuz. Im Erinnerungsjahr 2019 ist er noch einmal losgefahren – um „die verlorenen Bilder nachzuholen“, sie ins Jetzt zu bringen. Er ist nach Chemnitz und Bernau gereist, nach Jena und Cottbus. Orte, die fest verbunden sind mit Stereotypen von ostdeutscher Männlichkeit, von Kränkung und Selbstbehauptung. Gefunden hat er Menschen und Orte, deren Bilder für das Wohin aus dem gemeinsamen Woher stehen. Es sind Geschichten von jener klandestinen Zugehörigkeit, die dem Westen das seltene Gefühl der Fremdheit geben. Es sind: Codes der Ostdeutschen.

Als die Mauer fiel, war Tobias Kruse zehn Jahre alt. Es sei, sagt er, eine Zeit des Aufbruchs gewesen, der Unsicherheiten, Wagnisse und Gefahren. Erst recht für seine Generation Heranwachsender, deren Eltern gerade ein ganzes Land abhanden gekommen war. Die Neunziger werden ja gern als Jahrzehnt der Anarchie erzählt, als postideologischer Möglichkeitsraum, als Partyexzess. Für einen Jungen wie ihn, erinnert sich Tobias Kruse, war aber oft auch Furcht im Spiel. „Die einen haben gefeiert, die anderen haben sich gehauen“, erinnert sich Kruse.

Dass Freiheit sich gerade in jüngster Zeit erneut retransformiert, dass Geschichte sich in Ellipsen wiederholen kann, überrascht Kruse nicht. Die Narbe im rasierten Schädel, die vergessene Landschaft, der blonde Junge – dies könnten die Neunziger sein, wären es nicht die Zwanziger. „Da ist eine Ahnung von etwas Dunklem, das mich an das erinnert, was ich kenne. Davon kann ich erzählen“, sagt Kruse über seine Bilder. Die Rede ist von einem Land unter Spannung, an einem Wendepunkt. Es kann jeden Moment wieder alles passieren. Anja Maier

Tobias Kruse: „Deponie“. Bis 30. August 2020 im Hamburger Haus der Photographie

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