: Die Kraft magischen Denkens
Als Kind habe ich Kanaldeckel übersprungen, aus Lust und Laune; ich bin nicht in den Keller gegangen, aus Angst; ich habe auf dem Bürgersteig ein Muster aus Pflastersteinen hüpfend hinter mich gebracht, spontan; ich bin gerade Linien, Bordkanten oder Geländer längs spaziert, mit den Armen balancierend, als sei ich Trapezkünstlerin. Ich durfte nicht stolpern, nicht danebentreten, nicht vom Weg abkommen. Was wäre passiert wenn? Irgendwann knickte ich immer um oder ein. Nichts ist passiert. Aber es gab den einen Moment, der mein Wunschdenken beflügelte und die Welt aus den Angeln heben konnte.
Kinder praktizieren magisches Denken. Erwachsene auch, oft unbewusst, wenn sie ihr Geburtsdatum als Sicherheitscode benutzen, als würde die Zahl dieses persönlichen Tages besonderen Schutz bieten. Es sind die kleinen Tricks und Ticks, welche die Unwägbarkeiten des Alltags ausgleichen. Individuelle Macken, die sich in der Alltagsroutine verstecken können, dort aufgefangen werden. Gutes Omen, schlechte Aura.
Was, wenn das magische Denken nicht mehr hilft? Dann wächst sich die Angst zu Zwangsvorstellungen aus. Dann verschwört sich die Welt gegen mich. Die geraden Linien verwirren sich im Unendlichen, die Kanaldeckel verschlucken mich, ich stürze ab. Deswegen hüpfe ich hin und wieder über Kanaldeckel, gehe in den Keller, trotze dem Bürgersteig schräge Karos ab und balanciere über Geländer, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Die Welt stürzt vielleicht ab, ich nicht.
Sabine Seifert
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