: Gespenster im Garten
FOTOGRAFIE Sie war Muse, Model, Künstlerin und Kriegsreporterin: Bilder der Amerikanerin Lee Miller in der Galerie Hiltawsky
Das Surreale, es konnte ein Spiel sein. 1946 inszenierte Lee Miller eine Aufnahme von Max Ernst und Dorothea Tanning in der Wüste von Arizona. Unter einem imposanten Himmel steht Max Ernst, der aus Deutschland emigrierte Dadaist, groß wie ein Riese, und scheint Dorothea Tanning, amerikanische Malerin und seine Lebensgefährtin, knapp halb so groß unter seiner Hand zu halten. Zwar durchschaut man den Trick, dass Tanning weiter entfernt steht; die Komposition verfehlt dennoch ihre Wirkung nicht, das problematische Ungleichgewicht in der Beziehung zweier Künstler sichtbar werden zu lassen. Zugleich transformiert sie die Beziehung in eine märchenhafte Szene, die in ihrem Umgang mit groß und klein, fern und nah an jene Verwandlungsmächte anknüpft, die beide Künstler selbst in ihrer Arbeit nutzten.
Das Surreale, es konnte ein Fundstück sein. Zwei maskierte Gesichter wenden sich dem Betrachter zu, ein wenig fremd und unheimlich wie jedes verborgene Gesicht, in einer Fotografie aus London 1941. Das sind keine aus einem kreativen Überschuss aufgesetzten Masken, wie die, mit denen Picasso in seinem Atelier in einem anderen Bild von Lee spielt, sondern Feuerschutzmasken, kriegsbedingt von zwei Frauen aufgesetzt, die gerade einen Schutzraum aufsuchen. Eine andere Fotografie zeigt eine Wiese voll Gespenster, übermannsgroß in Tarnfarbenoptik, im Hintergrund ein Schloss. Es sind die mit militärischen Camouflagenetzen geschützten Statuen eines Schlosses in Deutschland, durch das Lee Miller 1945 als Kriegsreporterin mit der amerikanischen Armee reiste.
Die Galerie Hiltawsky zeigt zurzeit etwa 40 Arbeiten der amerikanischen Fotografin, die auch auf der Documenta in Kassel eine Rolle spielt. Dort gehört Miller zu jenen, die die Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev zu den von traumatischen Erfahrungen geprägten Künstlern zählt. Ausgestellt ist eine legendäre Fotografie von Millers Kollegen David E. Sherman, der sie in der Badewanne Hitlers in dessen Münchner Wohnung am 30. April 1945 zeigt, vor der Wanne ihre dreckigen Stiefel, auf einem Tisch daneben eine Skulptur. Dass Miller Jahre zuvor für ein Selbstporträt als Akt eine ähnliche Pose wie Hitlers Nippesfigur eingenommen hatte, bekommt im Documenta-Begleitbuch eine eigenartige Bedeutung, eine Aufladung der Realität mit magischen Verknüpfungen.
Dass Miller, Model, Modefotografin, Muse und Freundin vieler berühmter Künstler in den USA und Europa (darunter Man Ray), 1942 zur Kriegsreporterin wurde – wieder im Auftrag der Vogue – und später unter Depressionen litt, das hat schon oft Projektionen erzeugt. Einige ihrer dokumentarischen Aufnahmen aus den gerade befreiten Konzentrationslagern von Buchenwald und Dachau, die in Kassel zu sehen sind, findet man auch in der Berliner Galerie. Man sieht in die geöffneten Türen von Krematoriumsöfen, in Asche und Knochen. In Leipzig fotografierte sie im Amtszimmer des Oberbürgermeisters, der sich mit seiner Tochter umgebracht hatte, beide tief aus den schweren Sesseln gerutscht, eine groteske Verzerrung der repräsentativen Kulisse. Es fühlt sich ein wenig obszön an, diese verstörenden Dokumente gleich neben den eleganten und auch witzigen Inszenierungen Millers zu sehen.
Viele Bilder der Kriegsreporterin Miller wurden erst nach ihrem Tod 1977 von ihrem Sohn Anthony Penrose, der ihren Nachlass verwaltet und an der Ausstellung bei Hiltawsky beteiligt ist, in Büchern zusammengestellt und veröffentlicht. Von den ungewöhnlichen Brücken, die Miller zwischen Glamour und Realität schlagen konnte, zeugen in der Galerie zwei weitere Bilder. Das eine zeigt Clark Gable als Air Force Flieger 1943, das andere ein „Fashion Model“, das mit einer knappen und akkurat beschnittenen Silhouette in Kappe und Cape neben einem Wasserflugzeug post, 1949 in Sizilien: Beide verbinden erotische Ausstrahlung mit militärischen Zeichen, Sexiness mit Disziplin. Die unterschiedlichen Welten, deren Teil Lee Miller war, verbinden sich hier gelassen und mit sprödem Charme.
KATRIN BETTINA MÜLLER
■ Galerie Hiltawsky, Tucholskystr. 41, Mi.–Sa. 14–18 Uhr, bis 6. Oktober